Das Lesen einiger Zeitungen wird heutzutage mehr und mehr zu dem, was man mit dem Besuch in einem finsteren Gruselkabinett beschreiben könnte: Polemik und Behauptungen mischen sich mit tolldreisten Unwahrheiten und der Umdeutung von Wörtern. Ganz so, wie man es aus dem Roman „1984“ von George Orwell kennt. Aktuellstes Beispiel der Begriff „Konservativ“, der nun salonfähig gemacht werden soll – und mit ihm eine Geisteshaltung die sich absolut destruktiv auf die Gesellschaft auswirken könnte.

Wenn man schon etwas länger das politische Treiben in diesem Land beobachtet und auf ein paar Jahrzehnte zurück schauen kann, dann kommen einem einige Dinge heute mehr als seltsam vor. So zum Beispiel die Umdeutung von Begriffen die anscheinend nun in neuem Licht erstrahlen sollen. Wir erinnern uns an das Wort „liberal“, welches ursprünglich für eine offene Haltung und Toleranz gegenüber den Dingen des Lebens ausdrückte. Heute wird es hauptsächlich als ideelle Haltung gegenüber Märkten und Wirtschaftsräumen benutzt. Es geht um offene Märkte und die Freiheit überall genau das zu tun, was einem wirtschaftlich nützt. Liberalität im ursprünglichen Sinne gegenüber schwächeren Nationen und Menschen die diese Macht nicht besitzen kommt in der Definition gar nicht mehr vor. Neoliberal bedeutet also nicht die Hinwendung zu mehr Offenheit, Toleranz und dem Recht auf Freiheit anderer, sondern lediglich die Freiheit des Egoismus. Das ist nicht dasselbe.

Was bitte schön ist wirklich konservativ?

Laut „Wortschatz“, einer Seite mit Synonymen und Begriffserklärungen der Universität Leipzig werden für konservativ Synonyme wie „fortschrittsfeindlich“, „illiberal“, „reaktionär“, „rechts“, „rückschrittlich“, „rückständig“ und „unzeitgemäß“ genannt. Das Fremdwörter-Lexikon leitet das Wort von „Konservare“, also „erhalten“ und „bewahren“ ab, doch schaut man mal auf die letzten 30 Jahre wird genau das Gegenteil deutlich. In dieser Zeit haben diejenigen politischen Vertreter alles andere getan als zu erhalten… Sie haben die Binnenmärkte zerschreddert, das Vermögen von Städten und Kommunen verscherbelt, sich keinen Deut um den Erhalt der Natur gekümmert oder den Stellenwert des Lebens und den Anspruch auf freie Entfaltung der Individuen. Bewahrt wurde hier lediglich der Besitzstand.

In den 70er Jahren hat sich auch die SPD für Atomkraft ausgesprochen und vehement gegen die damaligen Proteste ausgesprochen. Es galt den „Fortschritt“ (was auch immer das sein soll) zu forcieren, da passte das Prinzip Umweltschutz nicht ins Bild. CDU und CSU waren hier nicht anders, griffen sogar noch bis ins neue Jahrtausend ökologische Thesen an die aus den Bedenken der Bevölkerung erwuchsen. Die Grünen waren für die Volksparteien ein gefährliche und anarchische Kraft, linke Sünder und verantwortungslose Rebellen, Autonome die nicht wußten was gut ist für das Land. Selbst heute sind die meisten Äußerungen der Politiker nur Nebelkerzen und dienen dem „Green Washing“, also der grünen Verschleierung nicht umweltfreundlicher Handlungsweisen. Geld, Profit, Wirtschaftskraft, Wachstum, Globalisierung und der „liberalisierte Markt sind die eigentlichen Triebkräfte – wie man am aktuellen Atomstreit sehen kann.

30 Jahre also wurden alle Menschen und Organisationen die wirklich etwas bewahren wollten angefeindet; und es wurde alles getan, ihnen Steine in den Weg zu legen. Man gab sich konservativ nach Außen, baute aber hinter dem Vorhang alles ab was Staat, Natur, Menschen, Pflanzen und Tiere zum Überleben brauchten. Nicht nur im eigenen Land… Gleichzeitig betrieb man den Raubbau in anderen Nationen, zwang sie dazu sich zu unterwerfen und genauso zerstörerisch zu handeln. Globale Schulden- und Entwicklungshilfepolitik machte es möglich. Was also wurde hier bewahrt? Was war dran am Konservativismus? Nicht sehr viel, oder?

Und die Jahre davor?

Vom Weltkrieg wollen wir gar nicht sprechen, hier wurde zerstört und nicht erhalten. Und in den 50er Jahren? Hier gab es eine Zeit (die wir heute zu Recht belächeln), in der man die Schrecken des Krieges gerade überwunden hatte und sich nichts sehnlicher als Frieden wünschte. Man gab sich harmlos, naiv, spießig, um nur ja schlecht die Aura des Bösen los zu werden. Alles war stimmig, nett sowie vom Geist des Erhaltens und Bewahrens beseelt. Auch wenn dies nur nach Außen geschah, man schaue nur mal auf die McCarthy-Ära in den USA, die aufkommenden Konflikte zwischen Ost und West, Koreakrieg, Indochinakrieg, den Aufstand in Ungarn, die Suez-Krise, die Revolution in Kuba uswusf. Alles von Bewahren kann auch hier keine Rede sein. Trotzdem wurde das Empfinden der Menschen von genau dem Konservativismus geprägt, der erhält und bewahrt – nicht zerstört und veräußert.
Und auch in den 60er Jahren wurde es nicht wirklich besser. Krisen, Kriege, Revolutionen und der Bruch innerhalb der Gesellschaften stimmten auf die 70er Jahre ein die die große Wende in Staats- und wirtschaftsphilosophischen Fragen einleitete. Der Anfang dessen was wir heute erleben: Geld ist der Gott und alles andere daneben unwichtig. Mal ganz ehrlich… wann gab es eine Zeit, in der konservativ wirklich für das stand, was es sich heraus nimmt zu sein? Man kann suchen und suchen – und wird diese Zeit trotzdem nicht finden. In den Köpfen der Menschen vielleicht, doch nicht in ihren Taten.

Heute, im Jahre 2010, scheint man dies alles vergessen zu haben und tut so, als wäre es wirklich so gewesen. Als hätten die konservativen Kräfte wirklich mal irgendwann etwas bewahrt. Doch was bitte schön war das? Diese Antwort bekommt man nicht. Nicht einmal die Familie, auf die der Konservativismus immer gern verweist, wurde geschont. Die katastrophale Arbeitsmarktpolitik und die hemmungslose Ausbeutung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche hat genau das Gefüge durchgeschüttelt, das doch nach eigenem Bekunden „bewahrt“ werden soll. Geld ist wichtiger als Menschen, Profit wichtiger als Wachstum… ist das konservativ?

Eine PR-Strategie soll den „neuen Menschen“ formen

Ich lese gern und viel, was leider zurzeit die Laune nicht gerade anhebt. So stieß ich letztens auf ein „Quiz“ im Hamburger Abendblatt, nach dem Motto: „Wie konservativ“ sind sie. Wie es oft bei solchen Frage-Antwort-Spielchen (mit Bewertung) so ist, geht es den Verfassern nicht so sehr um das Spielerische, sondern viel mehr um die Hoheit der Definition, denn Punkte gibt es natürlich nur für „richtige Gedanken“, also Antworten die in eine Tendenz passen. Hier war es unterm Strich die Aussage, das Konservativismus irgendwie in sei, fast progressiv, in jedem Fall aber gut. Ein Schelm wer denkt, dass dieses Quiz vielmehr erzieherischen Charakter hatte.

Auch im Fernsehen sitzen die „Experten“ beieinander und wollen auf Teufel komm raus den Konservatisvismus salonfähig machen. Und was man dann so hört ist oft bestenfalls lächerlich. Immer wieder wird gebetsmühlenhaft wiederholt, dass es hier um das Bewahrende und Erhaltende geht. Eine Diskussion die sich an die durch Thilo Sarrazins Buch angeschobene Migrationsdebatte und die auf dieser Welle schwimmenden Frage nach einer neuen rechten Partei andockt. Das PR-Ziel: Ein Bild vom „neuen Menschen“ zeichnen. Nachdem Herr Sarrazin in seinen Thesen ein tot geglaubtes biologistisches Nationen- und Menschenverständnis etabliert, schaffen die Medien mit ihrem Schrei nach einer neuen konservativen Partei den Nährboden. Die Umdeutung des Konservativen ist da nur ein konsequenter weiterer Schritt. Doch was soll daraus werden? Wohin soll die politische denn Reise gehen? Was bedeutet „konservative Politik“ für unseren Alltag?

Es geht allein um die Bilder in unseren Köpfen

Man kann gar nicht genug auf das Buch „Auf leisen Sohlen ins Gehirn“ von George Lakoff und Elisabeth Wehling hinweisen. In diesem geht es um die bedeutende Frage, wie sich politische Begriffe und Definitionen in unseren Köpfen fest setzen – und somit unser Weltbild bestimmen. Genau das soll geschehen – mit uns!
Das Buch geht davon aus, dass jeder Mensch geprägt wird und genau diese Prägung für seine Assoziationen und inneren Bilder entscheidend sind. Es geht vom familiären Umfeld aus und teilt dies in zwei Familienmodelle auf:

1. Das konservative Modell, in dem das „Strenger Vater-Prinzip“ wirkt, also ein Beziehungsgeflecht dass durch Strenge und den Glauben an Belohnung und Bestrafung geprägt ist. Der Vater ist autoritär und kann es sich aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit heraus nehmen die Familie zu dominieren. Leistung bringt Belohnung und Versagen Bestrafung. Wer von diesem Modell geprägt ist, wird auch im Leben danach verfahren und z.B. weniger Mitleid mit den „Versagern“ in der Gesellschaft haben oder stärker auf seine Belohnung in Form von Profit pochen.

2. Das progressive Modell setzt dagegen auf Kooperation und Gemeinsamkeit. Das wichtigste Prinzip ist die Unterstützung der Schwächeren, selbst wenn dies bedeutet, eigene Vorteile dafür sausen zu lassen. Die fürsorglichen Eltern setzen nicht auf Strafen, sondern auf Einsicht. Die Belohnung liegt nicht in der Übervorteilung anderer, sondern in der Stärke die man durch Kooperationen – gerade mit Schwächeren – gewinnt. Wer dieses Prinzip als Kind erlernt und verinnerlicht hat, wird sich in der Gesellschaft stets so verhalten wie er es für die Gesellschaft als Ganzes als am besten erachtet.

Natürlich gibt es auch Mischformen, gibt es Menschen die beiden vereinen. Doch wichtiger als dieser Aspekt ist, dass diese Erziehungsmodelle auch ihre inneren Symbole und festen Begrifflichkeiten haben. Und jeder Begriff den wir lernen, den wir denken, hören oder sagen, schafft in unseren Gehirnen eine physische Veränderung, ein inneres Bild das wir damit verbinden. Das fällt es nicht schwer zu verstehen, dass der Staat sich gern als strenger Vater inszeniert, dem wir zu folgen haben, ganz unabhängig davon, ob der Weg der beste ist. Gehorsamkeit und Treue zählen hier besonders – besonders aber der Blick auf all diejenigen die wir als Gefährdung des Status Quo begreifen: Arbeitslose, Arme, Alte, Ausländer usw. – sie verdienen nach dem konservativen Modell kein Mitleid, sondern Zurechtweisung, vielleicht sogar eine Züchtigung, notfalls aber Vertreibung – wenn sie nicht einsichtig sind.

Und hier schließt sich nun der Kreis zur Situation die wir haben. Wir sollen diese Haltung als richtig und wichtig lernen. Vielleicht sollen wir dazu noch konditioniert werden, um kommenden konservativen Politikern zu folgen, ganz so wie das Kind dem strengen Vater folgt, wenn er „Hierher!“ schreit. Da aber der Begriff „konservativ“ durch die Jahrzehnte eindeutig besetzt wurde (siehe oben), bedarf es des Neusprechs.

Orwell lässt grüßen

Das Traurigste an der Sache ist, dass an so vielen Stellen in den neuen konservativen Chor eingestimmt wird. Dabei ist absehbar, dass auch der Begriff konservativ nur ein Schutzmäntelchen ist. Er klingt immer noch irgendwie harmlos. Wenn man ihn jetzt noch schön positiv ausdeuten kann, dann wird wohl auch die neue politische Bewegung lediglich nur das Gute bewahren wollen, oder? Pustekuchen. Es gibt keine Beweise und keinen Beleg in der Geschichte dafür, dass es wirklich einen Sinnzusammenhang gibt.

Wir bewegen uns mit Siebenmeilenstiefeln auf eine Gesellschaft zu, die sich nicht anders den großen Problemen zu stellen weiß, als in Streit darüber zu verfallen wer Anspruch auf die letzten Krümmel hat. Wir sollten die Hauptursachen im Blick behalten (hat man denn die Weltwirtschaftskrise bereits vergessen?), anstatt uns gegenseitig zu zerstreiten, uns anzufeinden und den Gemeinsinn gänzlich zu verlieren. Was wäre von einer rechten Partei zu erwarten? Dass sie die Gesellschaft befriedet, sich weg von der katastrophalen Geldhörigkeit bewegt und andere Menschen zu integrieren weiß? Wohl kaum. Übrigens wäre dies auch bei einer linken Partei nicht zu erwarten, da diese nach dem gleichen „Strenger-Vater-Prinzip“ funktioniert. Es hat also gar nichts mit links oder recht zu tun, sondern mit dem Selbstverständnis der Gesellschaft.

Die einzige Möglichkeit dies nicht zu tolerieren liegt in einer genauen Analyse der hier verwendeten Begriffe, der tatsächlich Benennung der Ursachen und dem (ehrlichen) Wunsch sie zu beheben, wie auch in der Demonstration von Solidarität. Denn wenn diese verloren geht, dann geht auch die Gesellschaft zugrunde. Ohne Gemeinschaft gehen die Strukturen noch weiter kaputt, als es eh schon der Fall ist. Wenn wir das nicht zulassen und andere, alternative Modelle der Problem- und Konfliktlösung anwenden, wenn wir neue Begriffe schaffen, wo uns die alten und umgedeuteten gefangen halten, dann ist der größte Schritt schon getan. Und der ist bekanntlich ja immer der schwierigste von allen.

Bildquelle:
Pixelio.de, Karin Jung