„Die Einstellung des Menschen der Natur gegenüber ist heutzutage von entscheidender Bedeutung, ganz einfach wegen dessen neuerdings entstandener Macht, sie zu zerstören“, diese Worte schrieb vor über 50 Jahren eine Frau, die mit ihrem Buch „Silent Spring“ (Der stumme Frühling) den Anstoß für die Umweltbewegung in den USA gab: Rachel Carson.

Weibliche Heldinnen und Vorbilder sind in unserer Welt noch rar gesät – vor allem, wenn es um Wissenschaft und Politik geht. Rachel Carson ist eine davon. Und zum Glück hat Dieter Steiner, emeritierter Professor für Quantitative Geographie und Humanökologie am Geographischen Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, ihr nun ein Buch gewidmet.

Rachel Carson als Blaupause für uns Frauen von heute?

Vorbilder helfen uns, unseren eigenen Weg zu finden: Was ist uns in unserem Leben wichtig? Worauf kommt es wirklich an? Was sollen wir tun – und wann sollten wir uns über Rollen, Klischees und Erwartungen der Gesellschaft hinweg setzen? (siehe auch Wer sind Deine Vorbilder?).

Nun, Rachel Carson hat dies Zeit ihres Lebens getan: Sie hat studiert – und ist während ihres Studiums auch noch von der (weiblichen) Literaturwissenschaft zur (männlichen) Biologie gewechselt. Früh hat sie die Verantwortung für ihre Familie übernommen und ihre Mutter, ihre Schwester und deren Kinder versorgt. Sie hat sich in der männlich dominierten Welt der Behörden durchgesetzt.

Und sie hat aber auch den Mut gezeigt, sich aus dieser „sicheren“ Stelle heraus zu arbeiten – allen Hindernissen, Hürden und Widerständen zum Trotz. Dabei ist sie keineswegs ein „besserer Mann“ geworden. Nein, Dieter Steiner schildert, wie sie nicht den Fehler gemacht hat, männliche Verhaltensweisen zu kopieren, um sich hier Respekt zu verschaffen. Sie hat sich einfach ihrer Verantwortung für ihre Umwelt gestellt – ob dies nun Familie, Haustiere oder die Natur im Ganzen waren.

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Poesie, Wissenschaft und ein starkes, großes Herz

Sachlich und irgendwie mit einer etwas altertümlichen Sprache zugleich beschreibt Dieter Steiner Rachel Carsons langsame Verwandlung: Sie erkennt zunächst, dass sie sich finanziell unabhängig machen muss von der Naturschutzbehörde, in der sie arbeitete. Das schafft sie dann auch:

Ihre Roman-Triologie „Under The Sea-Wind“, „The Sea around us“ und „The Edge of the Sea“ verbindet genaue biologisch-wissenschaftliche Arbeit mit anspruchsvoller literarischer Schilderung. Das kommt so gut an, dass die Titel wochen- oder gar monatelang die Besteller-Listen beherrschen. Doch bis sie so weit kam, hatte sie einige Hürden zu nehmen. Ihr erstes Buch war ein totaler Flop. Ständig musste sie sich um ihre Familie kümmern – finanziell, aber auch emotional.

Dennoch hat sie es geschafft, ihre Liebe zur Natur, ihre Sehnsucht nach freier Naturbeobachtung, ihrem Wunsch finanzieller Unabhängigkeit und ihrem Anspruch an die literarische Qualität zu verbinden. Sie hat sich auch nicht von den zum Teil rauen und frauenfeindlichen Bemerkungen der Presse und Wissenschaft einschüchtern lassen, die es bereits zu ihren ersten (nicht besonders konflikt-trächtigen) Werken gab. Vielmehr hat sie dann auch noch den letzten Schritt genommen und sich einem höchst „gefährlichen“ Thema gestellt: Ihr war klar, dass ihr Buch über den Missbrauch von Pestiziden „The Silent Spring“ kräftigen Gegenwind hervorrufen würde. Ihr war aber auch klar, dass sie nie wieder in Ruhe die Natur beobachten könnte, würde sie nicht alles tun, um ihr beizustehen.

Bewusstwerdung und Selbstermächtigung

Unweigerlich führten sie ihre Naturbeobachtungen zu weiter- und tiefergehenden Betrachtungen unserer Welt:

„Ich selbst bin überzeugt, dass es nie zuvor eine größere Notwendigkeit für Berichte über die natürliche Welt und Interpretationen derselben gegeben hat. Die Menschheit hat sich sehr weit in eine selbst geschaffene künstliche Welt hinein begeben. Der Mensch hat versucht, sich in seinen Städten von Stahl und Beton von den Realitäten der Erde und des Wassers und der wachsenden Saat zu isolieren.

Berauscht vom Gefühl seiner eigenen Macht geht er immer weiter und weiter mit seinen Experimenten, sich selbst und seine Welt zu zerstören. Sicher gibt es kein einzelnes Rezept, um dieser Situation abzuhelfen, und ich biete kein Wundermittel an. Aber es scheint vernünftig anzunehmen – und ich selbst glaube dies –, dass, je klarer wir unsere Aufmerksamkeit auf die Wunder und Wirklichkeiten des Universums fokussieren können, wir desto weniger an einer Vernichtung unserer Rasse Geschmack finden werden. Verwunderung und Demut sind ganzheitliche Gefühle, die eine Lust auf Zerstörung an ihrer Seite ausschließen“, zitiert Dieter Steiner Rachel Carson in seinem Buch (Seite 168).

Sie erkennt nach und nach, dass die Natur – die sie ursprünglich für übermächtig und weit über dem Menschen stehend verstanden hat – tatsächlich dessen Schutz bedarf:

„Ich erinnere mich gut daran, dass ich mich in den Tagen vor Hiroshima fragte, ob die Natur … wirklich menschlichen Schutze benötige. Sicher war doch das Meer unverletzlich und für immer jenseits des Vermögens des Menschen, es zu verändern. … Aber ich irrte mich … Heute benutzen wir das Meer als Deponie für radioaktiven Müll. … Der einst wohltätige Regen ist nun zu einem Werkzeug geworden, das die tödlichen Produkte von Atombombenexplosionen aus der Atmosphäre herunter bringt“, so Rachel Carson (Pionierin der Öko-Bewegung, Seite 246).

Rachel Carsons Geburtshaus

Rachel Carsons Geburtshaus (Bildquelle: ccbarr, flickr)

Wir tragen die Verantwortung auch für das, was wir nicht tun…

Wir können nicht einfach weiter machen, stellt Carson bereits in den 1950ern fest. Zum einen ist da die Menge, die sich mittlerweile verbietet. Die Natur kann unseren Müll in diesem Ausmaß einfach nicht mehr aufnehmen. Zum anderen ist da die Langlebigkeit der Substanzen, die von uns wesentlich mehr Vorsicht und Sorgfalt fordern, als wir dies – auch heute noch – zeigen!

„Es dauerte Hunderte von Millionen Jahren, die Lebewesen hervorzubringen, die jetzt die Erde bewohnen … und die verschiedensten Formen annahm, bis es einen Zustand erreichte, in dem es der Umgebung angepasst und mit ihr im Gleichgewicht war“. Doch „der schnelle Wandel und die Geschwindigkeit, mit der immer neue Situationen geschaffen werden, richten sich mehr nach dem ungestümen und achtlosen Hasten des Menschen, als nach dem bedächtigen Gang der Natur“, fasst es Rachel Carson zusammen (Pionierin der Öko-Bewegung, Seite 246).

Wir füllen unsere Welt mit Plastik, mit radioaktiven Stoffen, mit gentechnisch veränderten Lebewesen, mit Nano-Partikeln und mit Chemikalien – und wir haben keinen blassen Schimmer, welche Auswirkungen dies auf die Öko-Systeme hat.

Wir können nicht sagen, wir hätten nichts gewusst

Wobei ich korrekt schreiben müsste: Wir hatten keinen blassen Schimmer. Denn die Erkenntnis, dass wir genauer und vorsichtiger mit den von Menschen erzeugten Produkten umgehen müssen, ist spätestens mit Rachel Carsons Buch „Silent Spring“ öffentlich. In dem 1962 erschienenen Buch beschäftigt sie sich ausgiebig mit den Auswirkungen von Pestiziden – den Insektiziden und Herbiziden – auf Tiere, Pflanzen und Menschen.

Sie zeigt darin auf, wie sich die Gifte in der Umwelt – über Regen, Flüsse, Tiere und Pflanzensamen – weiter verbreiten. Und wie sie sich über die Nahrungskette – vom Insekt über den Fisch oder Regenwurm bis hin zum Vogel (und uns) – akkumulieren können. Auf diese Weise sammeln sich solche Giftmengen an, dass Tiere sterben, Menschen erkranken.

Natürlich sorgte das Buch für einen entsprechenden Wirbel – immerhin war (und ist) die Pestizid-Industrie eine einträgliche. Der folgende TV-Beitrag, der auf YouTube zu sehen ist, wurde nach Erscheinen des Buches gedreht und zeigt eindrücklich, in welcher Atmosphäre Carson den mutigen Schritt zu dieser Publikation wagte.

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Die CBS-Doku über das Buch „Silent Spring

Nicht mehr als eine emotionale Vogelliebhaberin?

Natürlich zog die Industrie sämtliche Propaganda-Register, die ihr zur Verfügung standen. Die Diskreditierung Carsons als gefühlsduselige Frau, die unfähig ist, so rational und wissenschaftlich zu denken wie ein Mann, natürlich inbegriffen.

Das Buch entfachte einen riesigen Aufruhr: John F. Kennedy berief eine Untersuchung ein. Die Umweltbewegung entstand. Die öffentliche Meinung – und damit auch zunächst die politischen Entscheidungen – waren auf Carsons Seite. Und Carson? Sie schaffte es anscheinend, auf all diese Angriffe sachlich zu reagieren. Auch dies zeigt sich in der ober stehenden TV-Dokumentation, schildert aber auch Dieter Steiner in seinem Buch.

Krebs im Endstadium

Das Buch zeigt Carson als eine starke und zugleich demütige Heldin. Diese Haltung mag von ihren ausgeprägten Naturbeobachtung kommen, wie sie selbst schreibt: Im Angesicht der überwältigenden Natur muss man sich seiner kleinen, unbedeutenden Größe als Individuum bewusst sein.

Dies Haltung mag aber auch von ihrer Krankheit herrühren: Schon während ihrer Arbeit an „Silent Spring“ kämpft sie gegen den Krebs. Nur unter Mühen und großer Willensanstrengung konnte dieses Buch entstehen. Und sicherlich nur deshalb, weil ihr klar war, dass dieses Buch, dieser Kampf für den Erhalt der Natur, wichtiger war, als ihre persönlichen Befindlich- und Bequemlichkeiten.

Dennoch konnte Carson nach dem Erscheinen von „Silent Spring“ nur wenige Anfragen zu Vorträgen, Reden und Interviews annehmen. Zu sehr war sie vom Krebs geschwächt. Zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches – immer noch mitten im Trubel, den es ausgelöst hat – stirbt sie 1964 in ihrer Washingtoner Wohnung. Sie ist nur 57 Jahre alt geworden.

Was bleibt von Rachel Carson?

Noch trauriger als ihr viel zu früher Tod ist, was von ihrem Leben und Wirken übrig blieb. Denn sicher: Heute sprüht keiner – und schon gar nicht die Regierung – Gift in rauen Mengen auf Wohngebieten oder gar essende Kinder. Doch haben wir die Pestizide deshalb heute zurück gedrängt? Der Autor Dieter Steiner beendet sein Buch in dieser Hinsicht pessimistisch:

„Zu den positiven Entwickelungen gehört auch die schrittweise Einführung strengerer Gesetzgebungen zur Kontrolle der Pestizide. Dabei sollte aber nicht vergessen bleiben, was dies im Grundsatz bedeutet: Wir lenken, etwas boshaft formuliert, die Vergiftung der Umwelt in geordnete Bahnen!“

Rückblickend hätten die Pestizide zu Carsons Zeit den Vorteil gehabt, dass ihre verheerenden Auswirkungen so gut wie gleich sichtbar gewesen seien, meint Steiner. Heute gehe die Vergiftung unserer Welt schleichender und unsichtbarer von statten. In den USA setzt die Landwirtschaft seiner Aussage nach durchschnittlich 2,4 Kilo Pestizide pro Hektar ein. In Deutschland seien es 3,4, in Österreich 2,6 und in der Schweiz 4,8!

Die Konsequenzen für die Natur und uns

Das bleibt nicht ohne Folgen in der Natur – und das sind letztlich auch wir Menschen. „Um die Jahrtausendwende gab es nach Schätzungen der WHO und des UNEP weltweit über 26 Millionen Vergiftungsfälle mit 220.000 Toten. Unfruchtbarkeit, Fehlfunktionen des Immunsystems, psychische Störungen und verschiedene Krebsarten sowie Geburtsfehler werden mit chronischem Pestizid-Kontakten in Verbindung gebracht“, berichtet er.

Nach wie vor ist es also so, dass wir Vorbilder wie Rachel Carson brauchen! Wir brauchen sie für uns – historisch-biografisch gesehen, um uns und unser Handeln, unsere Lebensgestaltung an ihnen zu messen und gegebenenfalls nachzubessern oder mehr Mut zu beweisen. Und wir brauchen sie auch, weil das Engagement und der Kampf für den Schutz der Natur – und gegen die Ausbeutung und Vergiftung unserer Umwelt – noch längst nicht beendet ist.

Und so kann ich dieses Buch – vor allem uns Frauen – aus gleich mehreren Gründen ans Herz legen: Erstens macht es einem die Schönheit und Bedeutung der Natur bewusst und damit Lust auf Naturbeobachtungen. Zweitens schildert es anschaulich und einfühlsam, wie eine Frau – ohne feindlichen Kampf, sondern vielmehr mit einer ganz eigenen, mutigen und selbstbestimmten Art – ihr Leben in die Hand nimmt. Und drittens zeigt es, dass es eben nicht reicht, sich selbst zu verwirklichen, sondern dass unsere eigentliche Aufgaben darin besteht, über unser eigenes Schicksal hinaus Verantwortung für unsere Mitgeschöpfe zu übernehmen. Seien dies nun Menschen, Tiere oder Pflanzen.

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Bibliografische Angaben

Rachel Carson, Ökopionierin. Eine Biografie von Dieter SteinerRachel Carson. Pionierin der Ökologiebewegung. Eine Biographie
Dieter Steiner
360 Seiten
oekom verlag München
Erscheinungsjahr: 2014
ISBN: 978-3-86581-467-8
Preis: 19.95 €

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Bildquellen: 1. Bild: United States Fish and Wildlife-Service, wikimedia / 2. Bild: ccbarr, flickr