Antisemitismus – damit musste sich die documenta fifteen zunächst einmal auseinander setzen. Das ist wirklich schade, denn es gibt hier ganz viel auf der Grenze zwischen Kunst, Aktivismus und Globalem Lernen zu entdecken.

»ruangrupa« heißt das indonesische Künstler:innenkollektiv, dass die fünfzehnte documenta kuratiert hat. Im Zentrum stehen die Werte und die Idee des »lumbung«. Das ist das indonesische Wort für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune. Hier ist der Begriff jedoch Sinnbild für gemeinschaftlich-künstlerische Praktiken, geteiltes Wissen, Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung. Diese Werte sollten sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption verwirklichen, so ruangrupas Anliegen.

»Wir wollen eine global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform schaffen, die über die 100 Tage der documenta fifteen hinaus wirksam bleibt. Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen.«

ruangrupa (https://documenta-fifteen.de/ueber)

»ruangrupa« bedeutet frei übersetzt »Kunstraum« oder »Raumform«. Das Künstler:innenkollektiv gibt es seit 2000 und ist eine gemeinnützige Organisation. Diese fördert Künstler*innen und anderen Disziplinen wie Sozialwissenschaften, Politik, Technologie oder Medien, die künstlerische Idee im urbanen und kulturellen Kontext kritische betrachten. ruangrupa organisiert außerdem gemeinschaftliche Kunstprojekte wie Ausstellungen, Festivals, Kunstlabore, Workshops, Forschungsprojekte und produziert Bücher, Zeitschriften und Online-Publikationen.

documenta fifteen: Richard Bell, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers
documenta fifteen: Richard Bell, 2022, Installationsansicht, Fridericianum, Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nicolas Wefers

Künstler:innen des Globalen Südens

Es war heiß, sehr heiß, als wir uns an einem stinknormalen Wochentag durch die Ausstellungsorte schlängeln. Als erstes fällt uns auf: es wird nicht herunter gekühlt, wo es die Exponate nicht unbedingt erfordern. Das finden wir gut. Wir wollen doch Energie sparen. Als zweites sehen wir: Hier sind fast nur Künstler:innen aus dem Globalen Süden präsent. Das finden wir toll. Endlich einmal bekommen diejenigen ein Forum, die die meiste Zeit über von uns Europäer:innen übersehen werden.

Wer von der Zentrale – dem ruruHaus – in Richtung Fridericianum geht, stößt als erstes auf das Aboriginal Embassy. Das Kunstwerk tourt seit etlichen Jahren durch die Welt. Urheber ist Richard Bell, ein australischer Indigener. Er sei ein als Künstler getarnter Aktivist für Freiheit, meint er in Interviews. Denn seit seiner Jugend setzt er sich dafür ein, dass die Indigenen Australiens das zurück bekommen, was ihnen die weißen Siedler:innen einfach weggenommen haben: ihr Land!

Andere Künstler:innen kommen aus Afrika, Nordafrika, Lateinamerika, dem mittleren Osten, Asien – wenige aus Osteuropa. Viele Ausstellungsorte sind mit Video-Interviews der Künstler:innen ausgestattet. So lernen wir auch, unter welchen Bedingungen die Menschen hier Kunst machen. Wie schwierig das ist. Was sie antreibt. Und was sie nicht aufgeben lässt, selbst wenn sie dafür Gefängnis, Repräsalien und soziale Ausgrenzung zu erdulden haben.

documenta fifteen: La Intermundial Holobiente, Theaterschlag, 2022, The Holobiente Trail, 2022, Installationsansicht, Komposthaufen (Karlsaue), Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nils Klinger
documenta fifteen: La Intermundial Holobiente, Theaterschlag, 2022, The Holobiente Trail, 2022, Installationsansicht, Komposthaufen (Karlsaue), Kassel, 14. Juni 2022, Foto: Nils Klinger

Kunst als Prozess, Ort, Performance

Viele Kunstwerke der Documenta sind Prozesse. Zum Beispiel gibt es ein Projekt, in dem ein Künstler:innenkollektiv ihre eigene (Krypto)Währung entwickelt. Sie soll ein Tauschnetzwerk innerhalb der internationalen Gemeinschaft ermöglichen, sodass sich Künstler:innen gegenseitig unterstützen können. Das ist in Ländern, in denen es schlicht keine Kulturförderung gibt, natürlich noch viel existenzieller, als bei uns.

Andere Projekte beschäftigen sich mit horizontaler Bildung (Friedericianum), mit Lebensmittelproduktion und Essen (hinter der Documentahalle und im Hinterhof des WH22). Oder auch mit der Sprache der nicht-menschlichen Welt. Wie das wunderbare Projekt »The Book of Ten Thousand Things«. Es ist in einem kleinen Bauwagen mitten im der Karlsaue untergebracht. Dort steht es zwischen den riesigen Komposthaufen des Parks.

Die Idee des Buches, an dem diverse Künstler:innen unter der Anleitung von Paula Fleisner (Philosophin), Claudia Fontes (Künstlerin) und Pablo M. Ruiz (Autor) arbeiten, ist: Die eigentliche Geschichte steht, für unsere menschlichen Augen unsichtbar, in der Mitte der (scheinbar leeren) Seite. Drum herum finden wir Menschen Kommentare, Quellen, Hinweise etc. Der eigentliche Inhalt erschließt sich für uns Menschen also nur indirekt. Es ist das, was uns der Komposthaufen als Ort der Kooperation und Diversität erzählen würde …

documenta fifteen: The Nest Collective, Return To Sender, 2022, Installationsansicht, Karlswiese (Karlsaue), Kassel, 14 Juni 2022, Foto: Nils Klinger
documenta fifteen: The Nest Collective, Return To Sender, 2022, Installationsansicht, Karlswiese (Karlsaue), Kassel, 14 Juni 2022, Foto: Nils Klinger

Unser Fazit, Nachhausefahrgedanken …

Natürlich ist ein Tag viel zu wenig, um auch nur ansatzweise die vielen verschiedenen Ansätze, Themen und Hintergründe der Kunstwerke und Künstler:innen zu verstehen. Dennoch hat uns der Besuch absolut inspiriert. Zum einen mit der Frage (einmal mehr): Was ist eigentlich Kunst?

Ab wann wird beispielsweise eine eigene Tauschwährung, ein Gemeinschaftsgarten oder eine Volxküche Kunst? Ist die Hütte aus riesigen Second-Hand-Kleidungsstoffballen des Nest Collectivs mit Videos über das dreckige Geschäft mit unserem Kleidermüll eigentlich Aktivismus, Bildung oder Kunst?

Zum anderen das absolut tolle und berauschend glücklich machende Gefühl, dass sich rund um die Erde wahnsinnig viel tut, um Alternativen zu unserem derzeitigen zerstörerischen Lebensstil zu entwickeln. Kunst eröffnet dafür einen Raum, in dem sich Dinge erkunden lassen – frei von der Frage »ist das möglich?« oder »lässt sich das durchsetzen?«. Wir jedenfalls fahren motiviert und ermutigt wieder nach Hause. Und wir empfehlen euch: Fahrt auch noch hin, bevor sich am 25. September 2022 die Tore der documenta fifteen schließen.