Großzügigkeit ist in einer Welt, die auf Konkurrenz und Gewinnmaximierung ausgerichtet ist, die subversivste und zugleich wichtigste Art, die Welt zu verbessern. „Giftivism“ nennt sich das.
Ich war neulich bei der Achtsamkeits- und Focusing-Trainerin Susanne Kersig (www.achtsamkeit.info) zu Besuch. Ich hab sie natürlich mit Fragen gelöchert und irgendwann meinte sie: „Naja, bevor man überhaupt anfängt zu meditieren, übt man ja eigentlich erst einmal seine Fähigkeit, großzügig zu sein.“
Kurze Zeit später stieß ich über eine Weiterbildung zur Theory U (www.presencing.com) auf Nipun Mehta. Der Philosoph und Computer-Wissenschaftler wagte gemeinsam mit vier Kollegen ein Experiment: Sie gründeten die Organisation ServiceSpace (www.servicespace.org), um Gelegenheiten zum Üben von Großzügigkeit zu gestalten. Warum dies?
Warum Du Großzügigkeit üben solltest
Wer sich all der Unterdrückung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit wirklich bewusst ist, die gegenüber Menschen, Tieren und der Natur geschieht – der will sicherlich Auswege finden. Nun können wir Konzepte schreiben, Förder- oder Spendengelder zusammentragen und irgendwann – nach viel Planung und Vorbereitungen – die Welt verändern.
Oder wir tun es einfach gleich, direkt und ohne Umschweife. Nipun Mehta liefert in einem sehenswerten TED-Talk an der Universität von Berkeley ein gutes Beispiel, was damit gemeint ist: Der Inder und Freund von Ghandi Vinoba Bhave lebte fast gänzlich ohne Besitz. Anfang der 1950er Jahre gründete er die Bhudan-Bewegung.
Das heißt, er lief insgesamt fast 60.000 Kilometer durch Indien, um Großgrundbesitzer in einem persönlichen Gespräch davon zu überzeugen, ein Sechstel ihres Landes an mittellose Menschen zu verschenken. Laut Mehta wurden dadurch rund 5 Millionen Hektar Land verschenkt!
Das ist wohl der größte friedliche Transfer von Land in der menschlichen Geschichte. Und es zeigt, wie wirkungsvoll diese Art des „Giftivism“ sein kann, wie Mehta diese Form des Aktivismus nennt.
Design for Generosity
Doch unsere gesamte Welt ist nun mal so gestaltet, dass wir permanent unseren Vorteil suchen „müssen“. Wir haben immer Angst, es könnte nicht genug für uns übrig bleiben und so sind wir geizig und voller Konkurrenz. Doch was würde wohl geschehen, wenn wir unsere Welt so gestalteten, dass sie uns einlädt unsere Großzügigkeit zu leben und uns damit innerlich selbst zu transformieren?
Genau das versucht Mehta mit mittlerweile über 350.000 Mitgliedern der Organisation ServiceSpace. Auch Du kannst sofort damit anfangen – hier und jetzt. Denn Du brauchst dafür nichts weiter, als den Willen und den Wunsch, andere Menschen, Tiere und die Natur mit Deiner liebenden Großzügigkeit und Güter zu überfluten.
Denn das Praktizieren von Giftivism ist nicht nur sinnvoll, weil es unmittelbar ist. Es ist auch die Grundlage dafür, dass alle möglichen Ideen funktionieren, die uns eine bessere Welt bescheren sollen: Eine Sharing Economy ohne Großzügigkeit wird nur zu einem weiteren, kapitalistischen System, das auf der Vorteilsmaximierung jedes Einzelnen beruht. Echte Gemeinschaft kann nur entstehen, wenn wir in vielerlei Hinsicht großzügig werden. Die folgenden Tipps geben Dir Ideen, was ich damit meine:
Tipps zum Üben von Großzügigkeit
Und hier sind die Tipps, die ich aus den Idee von Nipun Mehta und meinen Recherchen zusammengetragen habe:
1. Bezahle im Café den Coffee-to-go
für den nächsten Menschen, der nach Dir kommt. Nipun Mehta hat mit ServiceSpace sogar das Restaurant „Karma Kitchen“ (www.karmakitchen.org) gegründet, das auf diesem Prinzip basiert: Niemand zahlt dort für sein Essen, kann aber das Gericht des nächsten Gastes bezahlen. Das funktioniert seit Jahren gut und hat sogar schon einige Nachahmer gefunden.
2. Hinterlasse einem Fremden eine Überraschungsfreude
und weise darauf hin, dass dies ein Geschenk ohne irgendeine Erwartung von Gegenleistung ist – aber dass es toll wäre, wenn der Beschenkte wiederum jemand anderen eine anonyme Freude macht, um die Kette der Großzügigkeit und Freude fortzuführen. Bei ServiceSpace gibt es dafür spezielle Smile Cards (www.kindspring.org).
3. Behalte kein Recht
Gibt einfach mal in einem Gespräch nach – auch wenn Du meinst, dass Du wirklich recht hast. Es ist ganz erstaunlich, was dann passiert: In den meisten Fällen öffnet sich der andere und fragt nach, was Du eigentlich meinst… Und wenn nicht – nun dann ist das eine gute Übung für Deine Großzügigkeit!
4. Geh über Fehler und Unzulänglichkeiten hinweg
Wenn Du auf jemanden triffst, der ungehalten, ärgerlich, gestresst oder ungehobelt ist, dann tu einfach mal so, als ob nichts sei und überschwemme diesen Menschen mit Deiner Freundlichkeit. Ich hab das schon ausprobiert und es ist erstaunlich, wie freundlich dann selbst grimmige Menschen werden können. Schenke gute Laune!
5. Schau genau hin
Versuche mal über einen festgelegten Zeitraum und zu festgelegten Uhrzeiten für jeweils eine Minute Deine Aufmerksamkeit auf jemanden (Mensch oder Tier) oder etwas anderes (etwa eine Pflanze) zu richten und Dir zu überlegen, was er oder sie in diesem Moment gebrauchen könnte, um sich besser zu fühlen. Das kann ein Gespräch sein, eine Tasse Tee, ein Nackenkraulen, etwas Wasser oder vielleicht auch nur ein aufmunterndes Lächeln.
6. Teile Deine Zeit und Energie
Wir alle haben immer weniger Zeit. Deshalb ist es eigentlich fast das Wichtigste, was du anderen geben kannst. Überlege Dir doch mal, wem Du etwas von Deiner Zeit und Energie schenken könntest – über die Organisation Tatkräftig e.V. (http://tatkraeftig.org) kann man sich zum Beispiel für eintägige, ehrenamtliche Aktivitäten melden. Aber es kann natürlich auch jemand aus Deiner Nachbarschaft, Familie oder Deiner Arbeit sein.
7. Free Hugs Campaign / Giftmob
Mach mit bei der Free Hugs Campaign (www.freehugscampaign.org) und verteile kostenlose Gratis-Umarmungen an Deine Mitmenschen. Alternativ kannst Du auch einen Schenk-Mob organisieren, wie wir ihn zum Beispiel bei unserer Konferenz für eine bessere Welt letztes Jahr durchgeführt haben – das funktioniert wie ein Flashmob, nur das Menschen dabei Dinge an Passanten verschenken. Beides kostet etwas Überwindung, macht aber auch viel Spaß und zeigt Dir lehrreiche Tabuzonen in unserer Gesellschaft.
8. Ändere Deine Perspektive
Frage Dich nicht, was Du brauchst, sondern was Du beitragen kannst? Dadurch verwandelst Du Dich nämlich nach und nach von einem passiven, abhängigen Konsumenten in einen kreativen, selbstbestimmten Menschen, der sich mit seinen ganz speziellen Fähigkeiten, Ideen und seinem Wissen in die Welt einbringt.
9. Hab keine Angst
Das ist wahrscheinlich das Schwierigste an der ganzen Sache, denn wir haben von Kindesbeinen an gelernt, dass es nicht genug für alle gibt und dass wir uns deshalb gegenüber den anderen durchsetzen müssen, um unseren Anteil zu bekommen. Um das zu ändern, musst Du überhaupt erst mal anfangen, Deine (Angst)Gefühle wahrzunehmen. Je weniger Du Dich selbst verurteilst, weil Du negative Gefühle hast, desto freier bist Du, sie Dir tatsächlich realistisch anzuschauen.
10. Führe ein Dankbarkeitstagebuch
Deinen Blick auf das zu richten, was Du an Positiven, Bereicherndem, Lehrreichen, Erfreulichem etc. erfahren hast, öffnet Dich dafür, anderen das gleiche widerfahren zu lassen. Und es hilft Dir auch, die Angst zu kurz zu kommen, abzulegen. Ich selbst habe mir dazu das Dankbarkeitstagebuch von Jutta Vogt-Tegen bestellt, in dem man täglich seine Aufzeichnungen machen kann. Andere Dankbkeitsübungen findest Du hier.
Es gibt sicherlich noch einige, weitere Möglichkeiten, um sich in Großzügigkeit zu üben. Fallen Dir noch welche ein? Dann hinterlasse uns und den anderen LeserInnen doch einfach einen Kommentar mit Deinem Tipp!
Bildquelle: Still Wanderer (via flickr)
Großzügigkeit und Dankbarkeit sind mächtige Werkzeuge fürs Gute, aber der Punkt oben „behalte kein Recht“ ist m. e. eher kontraproduktiv.
Was wahr ist, ist wahr und umgekehrt. wenn einer unsinn quatscht und mich zu überzeugen versucht, daß zweimalzwei fünf ist, kann ich das nicht einfach so lassen. Laschheit und falscher relativismus retten die Welt nicht. Sie führen höchstens dazu, daß man, wenn man Recht hat, sich nicht mehr traut, klar zu sein und dazu zu stehen; daß, wie wir an vielen Stellen in unserer Gesellschaft es heute schon erleben, die Narren tanzen und lärmen können, wie sie wollen, weil die noch nciht närrisch Gewordenen ja sooo tolerant sind.
Ist man allerdings allein unter Narren als einzig Normaler, was heute auch nciht so selten ist, so läßt man die Narren einfach quatschen, sagt garnix dazu, nach dem Bibelwort „Werft eure Perlen nicht vor die Säue“ – aber handelt, stillschweigend und wenns sein muß klammheimlich, in dem Rahmen von Entscheidungsfreiheit, die man sich noch erhalten hat, nach dem Stückchen Vernunft, das man sich noch erhalten hat. Ich hab das schon oft so machen müssen – wahrscheinlich ist dieser „untere Weg“ immer noch Teil des Frauenschicksals. Es ist aber nicht „Großzügigkeit“, sondern gehört eher in den Bereich von survival, Guerilla und „Agent 007“.
Mir geht es dabei um die ganzen Win-Lose-Spiele, die wir in unserer Gesellschaft so sehr pflegen. Es heißt immer: einer gewinnt, der andere verliert. Auch in der Kommunikation. Oft geht es gar nicht um die Sache, sondern ums Recht behalten und den anderen „besiegen“. Und zwar auch in dem von dir beschriebenen Kontext. Es geht dann nicht darum, den anderen zu verstehen, warum er eine (vielleicht falsche) Meinung hat. Es geht nicht darum zu zu hören. Es geht nur darum, den anderen irgendwie dazu zu bringen, das Gesicht zu verlieren, ihm seine „Dummheit“ nachzuweisen, ihn/sie niederzumachen. So entsteht meiner Meinung nach aber keine bessere Welt. Wir brauchen mehr Liebe, mehr Vertrauen, mehr Verstehen – mehr Zuhören, als Zureden… Zivilcourage muss dennoch sein – da stimme ich voll mit dir überein.
Sehr gute Idee! Erinnert mich ein wenig auch an das Pay-it-forward-Prinzip. Einfach jede(r) sollte die oben aufgeführten Tipps beherzigen, das wäre schon ein grosser Schritt hin zu einer lebenswerteren Welt. ??
Das stimmt – aber wie Nipun Mehta auch schon festgestellt hat, ist unsere Welt insgesamt so gestaltet, dass uns Großzügigkeit nicht unbedingt leicht gemacht wird 🙂
Ein aufmunternder, konstruktiver Artikel! Die spannenden Informationen motivieren dazu sich einzubringen.
Vielen Dank dafür!
Danke Johanna – jaaaa, jipeee, lass uns überschwänglich großzügig sein 🙂