Wie überleben wir, wenn es außer uns Menschen nur noch „Nutztiere“ gibt? Und wollen wir das?

„Wenn Sie beim Lesen bis hierhin durchgehalten haben, sind Sie mutig. Und ziemlich leidensfähig“. So steht es auf der vorletzten Seite des Buches „Überleben“. Geschrieben haben es die Wissenschaftsjournalisten Dirk Steffens (Moderator „Terra X“) und Fritz Habekuß (Die Zeit). Und sie haben recht. Dieses Buch ist harte Kost. Aber eine, die sich lohnt. Und keine Angst: Als Leser bleibt man nicht frustriert zurück.

Ökosysteme, Arten, Gene

Um es gleich zu sagen: Wer dachte, die Klimakrise wäre unsere größte Sorge, irrt. Das zeigt sich ziemlich schnell, wenn man sich mit dem Verlust an Biodiversität beschäftigt. Ein etwas sperriger Begriff und vielleicht der Grund, warum dieses Thema – entgegen seiner Dringlichkeit – nicht in aller Munde ist. Und doch ist die Krise so brisant, dass sie der Klimawissenschaftler Will Steffen in der absoluten Gefahrenzone mit hohem Risiko verortet hat.

Und das nicht ohne Grund. Denn es geht um den Verlust von Ökosystemen, Pflanzen- und Tierarten sowie genetische Vielfalt. Kurzum: Um den Verlust von Lebensvielfalt. Und damit nicht nur die Voraussetzung für ein gutes Leben, sondern vielleicht auch unser Überlegen in Zeiten der Erderhitzung.

Ein paar Zahlen: Seit den 1970er Jahren sind die Bestände von Wirbeltieren um 60 % gesunken. Auf drei Vögel in der Wildniss kommen zehn Masthühnchen. Alles, was wir Menschen hergestellt haben (die sogenannte Technosphäre) soll mittlerweile achtmal mehr wiegen als die Biosphäre. Und dennoch meinen wir, dass wir zugunsten des Wirtschaftswachstums und eines vermeintlichen Wohlstands noch mehr Biosphäre in (giftige) Technosphäre umwandeln sollten.

5 Gründe für das Artensterben

  1. Wir zerstören immer mehr Habitate. Mittlerweile sollen laut Steffens und Habekuß 3/4 aller Landflächen und 2/3 aller Meere von uns biologisch beeinträchtigt sein.
  2. Unkontrollierte Ausbeutung und Jagd. Allein die Zahlen im Meer schockieren. 70.000 Schiffe landen jedes Jahr 100 Millionen Tonnen Fisch an. Dabei sind bereits 60 % der Fischbeständig überfischt.
  3. Die Erhitzung der Erde. Die Klimakrise hat für die Natur kastrophale Folgen. Was sich bewegen kann flieht. „Die Erde erlebt die größte Artenwanderung seit 25.000 Jahren“, meinen die beiden Autoren. Zu Land flüchten Tiere im Schnitt 17 Kilometer, im Meer sogar 72 Kilometer in Richtung der Pole.
  4. Die Verschmutzung von Erde, Luft und Wasser. Neun von zehn Menschen müssen laut NASA mittlerweile verunreinigte Luft atmen. Geschätzt verursacht das acht Millionen vorzeitige Tode pro Jahr. Und das sind nur wir Menschen.
  5. Die Ausbreitung invasiver Arten. Damit sind Tier- und Pflanzenarten gemeint, die meist von uns Menschen in fremde Lebensräume eingeschleppt werden, sich dort massiv ausbreiten und heimische Arten verdrängen. Und allein die Ballasttanks großer Schiffe verschleppen jeden Tag rund 3000 verschiedene Spezies.

Was können wir tun?

Zum Glück bleiben Steffens und Habekuß aber nicht bei all den schrecklichen Erkenntnissen stehen. Nein, ihnen gelingt es wie sonst kaum Autoren solcher Bücher, dem Leser zuletzt einen positiven Mobilisierungsschwung mitzugeben. Zwar schreiben sie selbst, dass sie auch keinen Masterplan in der Tasche haben (den hat wohl keiner).

Und zum Teil widersprechen sie sich auch. Mal meinen sie, dass sich auf den Bewusstseinswandel der Menschen nicht hoffen ließe. Wenige Seiten später halten sie dies für den einzig möglichen Weg, wenn wir eine Demokratie behalten und nicht in einer Ökodiktatur landen wollen. Wie dem auch sei. Ihre Ideen klingen auf jeden Fall realistisch, pragmatisch – und dennoch utopistisch genug, dass sie der Notlage angemessen scheinen.

Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität

  • Gib der Natur ihr Recht. Es kann nicht sein, dass Unternehmen, Stiftungen und Staaten mehr Rechte haben als Wälder, Flüsse oder ganze Tierarten. Deshalb sind Menschen schon seit vielen Jahren dabei, genau das zu versuchen. Im Buch schildern die Autoren zum Beispiel die Initiative, die dem Mississippi zur juristischen Person machen will. Das hätte weitreichende Folgen.
  • Deinvestiere jetzt! Wenn schon der Blackrock-Gründer und Erzkapitalist Larry Fink meint, man solle nun nur investieren, wenn Klimaschutz dabei gesichert sei, könnte das auf einen Paradigmenwechsel hindeuten. Nein, nicht dass Fink auf einmal sein Gewissen entdeckt. Sondern dass bald Investitionen in Projekte, die die Umwelt ausbeuten und zerstören, einfach zu risikoreich sind – keine Profite mehr bringen.
  • Die Folgekosten offenlegen. Dass Menschen wie Hans Rosling und Steven Pinker meinen beweisen zu können, dass nicht nur alles nicht so schlimm ist, wie wir denken. Sondern dass sogar alles immer besser wird – das liegt laut Steffens und Habekuß daran, dass sie den Preis nicht berücksichtigen, den wir in der Zukunft für unseren heutigen Wohlstand werden zahlen müssen. Doch jede ökologische Krise wird zu einer Wirtschaftskrise. Und die wird zu einer sozialen und damit einer politischen. Die Weltbank schätzt, das im Jahr 2050 rund 140 Millionen Klimaflüchtlinge auf dem Weg zu uns sind. Mit Pinkers und Roslings heiler Welt dürfte es dann vorbei sein. Und wir müssen nun vor allem uns selbst klar machen, dass wir es uns auf Pump einfach viel zu gut gehen lassen.
  • Wir brauchen realistisch-uotpistische Perspektiven. Wer jetzt noch denkt „so schlimm wird es schon nicht“, „das wird sich langsam entwickeln“, „irgendjemand wird sich schon drum kümmern“ oder „wir werden uns herauserfinden“ – der irrt. Die Ökokrise ist real. Sie ist da. Und sie ist schlimmer, als du denkst! Deshalb brauchen wir zum einen eine realistische Vorstellung von dem, was da auf uns zukommt (wenn dich das interessiert, schau doch mal folgendes Video mit David Wallace-Wells an). Und wir brauchen Visionen, wie wir anders auch gut leben könnten. Und dann müssen wir beherzt darauf zusteuern.
  • Den ökologischen Ausnahmezustand ausrufen. Eine wesentliche Rolle kommt der Politik zu. Sie muss den Menschen klar machen, dass die Lage ernst ist. So, wie damals beim Ozonloch. Da haben Ronald Reagan und Margeret Thatcher den Ernst der Lage erkannt – und FCKW einfach verboten. Heute müsste ähnliches geschehen, nur viel extremer. Steffens und Habekuß schlagen vor, den ökologischen Ausnahmezustand für befristete Zeit auszurufen. Und diesen dann zu nutzen, um folgende Änderungen durchzusetzen:
  • Den Artenschutz im Grundgesetz verankern.
  • Die Umweltministerin bekommt ein Veto-Recht. Das hat der Finanzminister übrigens heute schon. Wenn der Verkehrsminister zum Beispiel 1.000 Kilometer Autobahn bauen will und das Geld dafür nicht da ist, kann er das Projekt kippen. Diese Handlungsvollmacht bräuchte die Umweltministerin auch.
  • Das Verursacherprinzip durchsetzen. Dazu gehört, dass umweltschädliche Subventionen gestrichen und sämtliche ökologischen Folgekosten von den Verursachern bezahlt werden müssten. Landwirte, Elektrokonzerne, Fleischproduzenten und Autohersteller müssten dann für die Kosten, die ihre Produktion hervorruft, selbst grade stehen. Das würde alles kurzfristig natürlich sehr viel teurer machen. Langfristig ist das laut Steffens und Habekuß aber der einzige Weg für echten Umweltschutz.

Optimismus ist Pflicht

So sagte es der Philosoph Karl Popper. Und so halten es auch Steffens und Habekuß in ihrem unbedingt lesenswerten Buch. Sie zeichnen nichts schön. Sie schildern die Situation so, wie sie nun mal ist – destaströs. Und doch schaffen sie es, mich als Leserin am Ende nicht mutlos und frustriert zu entlassen. Im Gegenteil.

Denn ein wesentlicher Unterschied zwischen der Klimakrise und dem Artensterben ist: Jede*r Einzelne zählt. Ja, es gibt die Fälle, wo Ökosysteme und Arten nur zu retten sind, wenn es nationale oder gar internationale Vereinbarungen gibt. Aber es gibt auch die vielen Fälle, wo ein Blühstreifen, ein anderes Konsumverhalten oder eine andere Mobilität den entscheidenden Unterschied machen.

Überleben

Zukunftsfrage Artensterben: Wie wir die Ökokrise überwinden.
Dirk Steffens und Fritz Habekuß
Penguin Verlag
ISBN 978-3-328-60131-9
20,00 Euro
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