Wie 3,5 Prozent der Bevölkerung echte politische Veränderungen bewirken – Erkenntnisse von Erica Chenoweth und ihre Bedeutung für uns und Deutschland.
In einer Zeit, in der unsere Demokratie durch Rechtspopulismus, Technokratie, globale Umweltkrisen und wachsende Ressourcenknappheit auf eine harte Probe gestellt wird, haben wir uns immer dringlicher gefragt: Wie 3,5 % echte politische Veränderungen bewirken können? Jahrelang sind wir zu Demos gegangen, haben uns in Initiativen engagiert, gebloggt, Konferenzen organisiert, Workshops gegeben, Bücher geschrieben und, und, und (mehr über uns gibt’s hier).
Außer uns waren all die Jahre so viele andere Menschen aktiv, dass wir zunächst ratlos waren, als dieser heftige Sog nach rechts in unserer Gesellschaft einsetzte. Was können wir tun? Welches Engagement bringt wirklich was? Wie müssen wir uns organisieren, um echte politische Veränderungen zu bewirken? Bei unseren Recherchen sind wir auf die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth gestoßen. Sie hat uns Mut gemacht, denn in ihrer Forschung hat sie eine beeindruckende Antwort gefunden, die Hoffnung macht und gleichzeitig herausfordert.
Die 3,5-Prozent-Regel: Ein Wendepunkt in der politischen Forschung
Erica Chenoweth, Professorin an der Harvard Kennedy School, widmet sich der Untersuchung von politischen Bewegungen und der Wirksamkeit gewaltfreier Proteste. Erst war sie davon überzeugt, dass eine Bevölkerung einen Autokraten oder Diktator nur loswerden könne, wenn sie auch Gewalt ausübe. Sie geriet in eine Diskussion mit anderen, konnte ihre Überzeugung aber nicht belegen. Also machte sie sich an die Arbeit.
Sie analysierte über 100 Fälle von Widerstand zwischen 1900 und 2006 weltweit und entdeckte, dass eine aktive Beteiligung von mindestens 3,5 Prozent der Bevölkerung fast immer ausreicht, um einen grundlegenden politischen Wandel zu erzwingen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass ihr Widerstand und Protest gewaltfrei verlief! Es überraschte sie, dass gewaltsame Aufstände häufiger scheiterten, während gewaltfreie Massenbewegungen mit dieser Schwelle so gut wie nie fehlschlugen.
Die 3,5-Prozent-Marke stellt somit eine Art Faustregel dar. Eine Schwelle, ab der politische Bewegungen eine kritische Masse erreichen, die das bestehende Machtgefüge ernsthaft herausfordert. Das ist natürlich kein fixer Wert, sondern ein Durchschnitt. Es gibt auch Bewegungen, die mit weniger Bevölkerungsanteil erfolgreich waren (etwa die Serbinnen und Serben beim Sturz Slobodan Miloševićs, hier findest du mehr Infos dazu, wie das gelang…). Und es gab Bewegungen, die sogar mit mehr als 3,5 % der Bevölkerung nicht ihr Ziel erreichten.
Doch um diese Zahl herum gibt es einen Machtgewinn aus Millionen von Menschen, die mit friedlichen Aktionen wie Demonstrationen, Streiks oder zivilen Ungehorsam ihre Forderungen durchsetzen.
Wieso gewaltfreier Protest so viel wirksamer ist
Erica Chenoweth nutzte umfangreiche quantitative Datenanalysen, um die Erfolge und Misserfolge verschiedener Proteste zu vergleichen. Sie stellte fest, dass es nicht nur auf die Anzahl der Protestierenden ankommt, sondern insbesondere darauf, wie breit die Bewegung in der Gesellschaft verankert ist. Und wie sich herausstellte, haben nicht-staatliche, gewaltfreie Bewegungen im Schnitt doppelt so hohe Erfolgschancen wie bewaffnete Konflikte, weil sie in der Bevölkerung viel breiter unterstützt werden.
Ihre Arbeit betont auch, dass Faktoren wie Organisation, strategische Führung und Nachhaltigkeit essenziell sind, häufig sogar Voraussetzung, um die kritische Beteiligungsrate von 3,5 Prozent zu erreichen. Auch wenn die konkrete Zahl nicht für jede Bewegung gleichermaßen gilt, ist diese Schwelle dennoch ein praktischer Maßstab, um abzuschätzen, wann eine Bewegung das Potenzial hat, echte politische Veränderungen zu bewirken.
Warum gerade 3,5 Prozent so mächtig sind
Jetzt denkst du vielleicht: »3,5 Prozent – das sind wirklich zu wenig, um viel zu bewirken!« Für Deutschland wären das in konkreten Zahlen jedoch 2.922.185 Menschen! Das wären mehr Menschen, als in Hamburg leben. Doch gerade diese überschaubare Zahl an politisch aktiven Menschen hat es in sich. Sie ist groß genug, um sichtbar und unbequem für die Mächtigen zu sein – und gleichzeitig klein genug, um handlungsfähig zu bleiben und eine klare Strategie zu verfolgen.
Die Macht liegt laut Chenoweth vor allem in der breiten Beteiligung und dem festen Willen, echte politische Veränderungen friedlich einzufordern. In Zeiten, in denen autoritäre Tendenzen wachsen, ist es deshalb umso wichtiger, diese Schwelle zu überschreiten und politische Bewegungen mutig, organisiert und überzeugend zu gestalten.
Bedeutung für Deutschland: Herausforderung und Chance zugleich
Für uns hier in Deutschland birgt diese Erkenntnis eine klare Botschaft: Trotz der Bedrohungen durch Rechtspopulismus, technokratische Kontrolle und die gravierenden ökologischen Krisen ist gesellschaftlicher Wandel immer möglich – und es gibt keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen und zu resignieren! Wir können eine entschlossene Bewegung aufbauen, an der sich mindestens 3,5 % der Bevölkerung aktiv beteiligt und die eine noch breitere, passive Unterstützung in der Bevölkerung genießt!
Deshalb ist unser Aufruf an dich: Unsere Demokratie steht auf dem Spiel. Es reicht nicht mehr, sich nur passiv zu informieren oder punktuell zu reagieren. Dein aktives Engagement ist gefragt! Auch wenn es klein ist. Gemeinsam können wir viele Menschen sein und erreichen. Das ist die Voraussetzung, um echte politische Veränderungen zu bewirken. Dabei wollen und sollten wir auf jeden Fall gewaltfreie Mittel nutzen, denn Chenoweths Forschung zeigt klar, dass erfolgreiche Bewegungen auf friedlichem Widerstand beruhen.
Das bedeutet konkret: Wir müssen Wege finden, mehr Menschen einzubinden – ob durch politische Bildung, Vernetzung von Initiativen oder zivilgesellschaftliche Organisationen. Angesichts der wachsenden Ressourcenknappheit und des Klimawandels ist es wichtiger denn je, gemeinsam für eine regenerative, nachhaltige und sozial gerechte Zukunft einzutreten.
Fazit: 3,5 Prozent für eine bessere Welt – Potenzial für Deutschland nutzen
Erica Chenoweth hat mit ihrer Forschung ein wertvolles Werkzeug für den gesellschaftlichen Wandel geliefert. Für Deutschland heißt das: Es liegt an uns, diese Erkenntnis zu nutzen und eine kritische Masse für Demokratie, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zu mobilisieren. Nur mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Engagement können wir Technokratie und Rechtspopulismus entgegenwirken und eine lebenswerte Zukunft gestalten.
Denn die Demokratie lebt vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger – und eine entschlossene Minderheit von 3,5 Prozent kann tatsächlich den Unterschied machen.
Quellen:
- Mit 3,5 Prozent der Bevölkerung gelingt die Revolution – Spectrum: https://student.unifr.ch/spectrum/de/2023/10/mit-3-5-prozent-der-bevoelkerung-gelingt-die-revolution/
- The ‚3.5% rule‘: How a small minority can change the world – BBC Future: https://www.bbc.com/future/article/20190513-it-only-takes-35-of-people-to-change-the-world
- Questions, Answers, and Some Cautionary Updates Regarding the 3.5% Rule – Harvard Kennedy School: https://www.hks.harvard.edu/centers/carr/publications/questions-answers-and-some-cautionary-updates-regarding-35-rule
- Why Protest Works—The 3.5% Rule with Erica Chenoweth (Podcast): https://podcasts.apple.com/us/podcast/why-protest-works-the-3-5-rule-with-erica-chenoweth/id1564530722?i=1000716270481
- Bevölkerungszahlen Deutschlands von Destatis: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/_inhalt.html
- Zahl der Einwohnenden Hamburgs WIKIPEDIA: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Gro%C3%9Fst%C3%A4dte_in_Deutschland

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