Der Frankfurter Filmemacher Martin Keßler über die „Neue Wut“ in Deutschland.
Der Frankfurter Filmemacher Martin Keßler begleitet seit 2003 soziale Bewegungen mit seiner Kamera – in Deutschland und weltweit. Auch wenn dies bedeutet, dass er seine Filme nur mit schmalem Budget, unsicherer Finanzierung und viel Engagement bewerkstelligen kann. Wir sprachen mit ihm über seine Arbeit, die »neue Wut« in Deutschland und dem, was der Wut folgen muss.
Wann hast Du Dich entschieden, als Filmemacher soziale Bewegungen zu dokumentieren und warum?
Angefangen hat alles mit den Protesten gegen die Agenda 2010. Ich habe damals schon viele Jahre als freier Fernsehjournalist gearbeitet und Filme für die ARD, das ZDF und den WDR gemacht. Darunter viele Filme, die sich mit wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen befassten. Anfang des Jahrtausends hatte ich das Gefühl, dass da eine neue soziale Protestbewegung entsteht, die das Soziale verteidigen will und sich gegen den Neoliberalismus zur Wehr setzt. Leider war es damals nicht möglich, im WDR etwas darüber zu machen und so habe ich mich entschieden, diese Bewegung mit der Video-Kamera selbst weiter zu verfolgen.
Dank der technischen Entwicklungen braucht man kein großes Team und keine riesigen Etats mehr, um längere Zeit an einem Thema dran zu bleiben. So entstand als erstes der Dokumentarfilm über die Harzt-IV-Proteste mit dem Titel »Neue Wut«, der dann auch ein großes Echo in Hunderten von Veranstaltungen und auch in den Medien gefunden hat.
„Neue Wut“ hieß der Dokumentarfilm über die Harzt-IV-Proteste, mit dem alles anfing.
Daher kommt auch der Name Deiner Website www.neue-wut.de oder? Klingt »Wut« nicht zu wenig konstruktiv für Dich?
Das finde ich nicht. Wut ist ja zunächst eine emotionale Reaktion von Menschen, die das Gefühl haben, nicht mehr gehört zu werden. Menschen, die sehr starke Ohnmachtsgefühle haben und denen etwas Existenzielles weggenommen werden soll. Der Begriff »Neue Wut« sollte aussagen, dass die »alte« Wut – der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit – durch den Sozialstaat befriedet worden ist. Doch in dem Maße, indem dieser Sozialstaat zurückgebaut wird, artikuliert sich die Wut neu. Der Film zeigt zudem, dass diese Gefühle sehr stark schwanken: Die Menschen fühlen sich auf der einen Seite ohnmächtig und glauben, eh nichts machen zu können. Auf der anderen Seite gibt es in Wellen dann immer wieder diese »Wutausbrüche« in Form sozialer Proteste.
Interessanterweise sprechen seit letztem Jahr unheimlich viele Medien von »Wutbürgern«. Wir lagen mit unserer Wahrnehmung also schon 2003 richtig. Unsere Langzeitbeobachtung – die aus vielen verschiedenen Dokumentarfilmen besteht – zeigt, wie neue Strömungen aufkommen: zunächst die Hartz-IV-Proteste, dann die Proteste gegen die Studiengebühren hier in Hessen, der G8-Gipfel in Heiligendamm, und schließlich auch die Occupy-Bewegung in Frankfurt a. M.. Bei all diesen Bewegungen spielt die Enttäuschung über das etablierte Parteiensystem eine große Rolle.
Das ist sozusagen die Entsprechung dieses Ohnmachtsgefühls: Gerade vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise, entsteht der Eindruck, dass es den Eliten in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nur noch um Bereicherung geht. Nicht wenige denken sich: »Die sind ja eh alle korrupt!« Und: »Die repräsentieren uns eh nicht mehr!« Auch der Begriff »Wutbürger« ist ja entstanden, weil eine kleine Szene von Politikern und wirtschaftlichen Interessenvertretern das Projekt »Stuttgart 21« durchdrücken wollte – und das ja nun auch tut. Die Bürger haben das Gefühl: wir werden nicht beachtet, wir sind ausgeschlossen.
„Kick it like Frankreich„: Der Dokumentarfilm über den Studentenaufstand in Frankfurt
Wie haben sich die Bewegungen denn verändert? Vom Harzt-IV-Protestler über den Wutbürger der Mitte bis hin zur Occupy-Bewegung?
Es sind verschiedene Bereiche der Gesellschaft in Wut geraten – um bei diesem Begriff zu bleiben. Alle diese Bewegungen sind ein Reflex auf den sozialen Ausschluss und die Tatsache, dass politische Entscheidungen in immer kleineren und immer weniger legitimierten Gremien getroffen werden.
Alle Bewegungen belegen aber auch: es reicht nicht, wütend oder nur gegen etwas zu sein. Wut zeigt zwar, dass die Menschen nicht einverstanden sind – und das ist ja auch erst einmal sehr wichtig. Aber das Gefühl der Ohnmacht sichert auch Herrschaft. Dass war ja immer schon der Fall: man will die Leute einschüchtern. Sie sollen ängstlich sein, damit man sie dominieren kann.
Man muss also immer auch schauen, wo es Spielräume für positive Veränderungen gibt: So wird die Genossenschaftsbewegung in letzter Zeit wieder stärker. Es gibt eine allgemeine Tendenz zu einer Rekommunalisierung – z.B. der Energieversorgung. Die Indignados (die Empörten, A.d.V.) haben dort wieder öffentliche Räume geschaffen, wo zuvor viele Jahre lang öffentliche Plätze privatisiert wurden. Das gibt den Menschen neue Räume, in denen sie ins (politische) Gespräch kommen können. Oder die Bürgerhaushalte, die in Brasilien entstanden sind und auch hier stärker diskutiert werden. Dabei können die Bürger in den einzelnen Stadtteilen mit entscheiden, wofür die öffentlichen Gelder eingesetzt werden sollen. Es gibt also eine ganze Reihe positiver Ansätze, die zeigen: Es passiert etwas.
Im Mai gab es ja wieder ein internationalen Protesttag der weltweiten Demokratie-Bewegung (Stichwort: Blockupy). Wie beurteilst Du diese Bewegungen?
Das ist ein neuer Ansatz. Wir haben dazu letztes Jahr in der Reihe »Krisensplitter« einige Filme gedreht. Und es war erstaunlich zu sehen, dass plötzlich wieder Massen auf die Straße gehen. Auch Leute – zumindest hier in Frankfurt –, die man lange nicht mehr auf der Straße gesehen hat. Diese Bewegung hat also einen großen Mobilisierungseffekt. Natürlich gibt es die Kritik, dass sei alles zu naiv und blauäugig. Eine Kritik, die derzeit ja auch den Piraten vorgeworfen wird – und zum Teil sicher zu Recht.
Doch bei einer Politik, die immer wieder alles als »alternativlos« darstellt, müssen sich die Menschen die Alternativen eben erst einmal hart erarbeiten. Das war bei der globalisierungskritischen Bewegung attac so, und bspw. auch bei der Arbeiterbewegung im vorletzten und letzten Jahrhundert. Dieses Ringen um Alternativen ist ein mühsamer und vor allem langwieriger Prozess. Dabei gilt – ähnlich wie bei der Weltsozialforums-Bewegung seit Anfang dieses Jahrtausends –, dass die Vielfalt gerade die Stärke ist und dass es durchaus ganz unterschiedliche Ansätze und Antworten gibt. Aber man muss sich gemeinsam austauschen, weil es eben gemeinsame, grundlegende Fragen gibt. Das braucht Zeit.
„Krisensplitter“ ist der Titel einer Video-Serie zu aktuellen Protesten, zu sehen im Youtube-Kanal von Martin Keßler
Wie siehst Du die deutschen Bewegungen im internationalen Vergleich?
In Deutschland herrscht noch sehr stark die angstvolle Frage, wie sich die Finanzkrise auf uns auswirken wird? Noch haben uns die Folgen nicht so dramatisch getroffen, wie andere Länder Europas. Daher habe ich das Gefühl, dass wir in Deutschland in letzter Zeit so eine Art Burgfrieden hatten: wenn wir nur weiterhin wirtschaftlich stark sind, werden schon irgendwie alle Bürger davon profitieren und alles, was um uns herum passiert an sozialem Auseinanderbrechen, geht irgendwie an uns vorbei. Doch das ist ein Trugschluss. Das hat nicht zuletzt die Wirtschafts- und Finanzkrise gezeigt: Alles schlägt auch auf Deutschland zurück. Wir können uns nicht einigeln und so beginnt auch diese „Burgfriedenmentalität“ immer mehr zu bröckeln.
Noch mal zu Dir: Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus? Wie finanzierst Du Dich und Deine Filme?
Ich arbeite seit 27 Jahren als freier Fernsehjournalist und Filmemacher. Doch in den letzten Jahren habe ich immer mehr Filme außerhalb des Fernsehens herausgebracht, weil im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Möglichkeiten für meine Filme viel viel geringer geworden sind. Leider, muss man sagen.
Um unsere Themen weiterhin verfolgen zu können, suchen wir uns Unterstützung von Stiftungen etc. Das ist natürlich nicht einfach. Denn kaum eine Stiftung möchte so ein Projekt dauerhaft finanzieren. D.h. wir arbeiten nicht nur mit einem sehr kleinen Team – ich arbeite mit einem Tonmann, einer Cutterin, einem professionellen Sprecher u.a. zusammen und mache die Kamera aus finanziellen Gründen schon viele Jahre selbst.
Es bedeutet auch, dass meine Arbeit als Filmemacher – also das Drehen und Recherchieren und so weiter – vielleicht nur noch 40 Prozent meiner Arbeitszeit ausmacht. Die anderen 60 Prozent sind der Versuch, an Gelder zu kommen und Veranstaltungen mit unseren Film zu organisieren. Denn ich mache die Filme ja natürlich, damit möglichst viele Menschen sie auch sehen. Dazu nutzen wir auch immer mehr das Internet: Zu vielen Filmen gibt es Kurzversionen im Internet. Unsere Reihe »Krisensplitter« läuft sogar als eine Serie von Kurzfilmen ausschließlich via YouTube, weil wir für einen richtigen Dokumentarfilm die Finanzierung nicht hinbekommen haben. D.h. ich kann von meiner Arbeit als Filmemacher leben. Aber nur um den Preis, dass ich sehr viel arbeite und mir wenig Zeit für andere Dinge bleibt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Infos über Martin Keßler und seine Filme findet ihr auch unter: www.neuewut.de
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