Kann Steuerpolitik die Demokratie stärken? Diese Frage hatte ich mir ursprünglich gar nicht gestellt, als ich mir ein Buch mit dem Titel „Black Box Steuerpolitik“ bestellt hatte. Dann kam die Wahl von Trump. Dann löste sich die Ampelkoalition auf. Dann erhielt ich von abgeordnetenwatch die Nachricht, dass innerhalb von zwei Wochen zwei Millionen Euro an Parteispenden geflossen sind.
„Unternehmen und Privatpersonen versuchen so, sich Einfluss zu erkaufen und ihre Interessen zu sichern“, schrieben Gregor Hackmack und Boris Hekele von Abgeordnetenwatch. Und mir war klar: Doch, Steuerpolitik kann unsere Demokratie stärken – oder schwächen. Aber schauen wir uns genauer an, wieso das so ist und wie es anders gehen könnte …
Leben wir in einem gerechten Land?
Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung ist der Meinung, das Gewinne in unserem Land ungerecht verteilt sind. Dabei schätzen Menschen, die männlich, gebildet, gut verdienend sind, die Situation in unserem Land als gerechter ein, als solche, die weiblich, schlecht gebildet und schlecht verdienend sind. Das liefert Anlass zur Sorge, findet die Autorin Julia Jirmann. Sie ist Betriebs- und Volkswirtin sowie Wirtschaftsjuristin und leitet den Bereich „Erbschaft & Vermögen“ sowie „Einkommenssteuer“ des Netzwerk Steuergerechtigkeit e.V.
Sie macht sich sorgen, denn Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, vertrauen der Politik und öffentlichen Institutionen weniger. Dadurch tragen sie notwendige Veränderungen – etwa in Sachen Klimaschutz – weniger mit. Und sie werden von Ängsten vor Abstieg und Statusverlust gequält. Das ist das ideale Klima, in dem politische Propagandisten gedeihen, die einfache Lösungen vorzugsweise mit leicht zu attackierenden Sündenböcken anbieten.
Wie sich die Ungerechtigkeit in Deutschland verbreitete
Was mir zunächst gut gefallen hat ist, dass Julia Jirmann einen Ausflug in die Geschichte macht und zeigt, wie alles so gekommen ist: Ende der Neunzigerjahre, Anfang 2000 war die Arbeitslosigkeit hoch. Die Wiedervereinigung schien finanziert. Die Politik reihte sich in die internationale Riege derjenigen ein, die die Steuern für die Reichen und Wohlhabenden mehr und mehr senkten – in dem Glauben, dass deren Reichtum mit der Zeit nach unten „rieseln“ würde (der so genannte „trickle down Effekt“).
Doch dieser ist bis heute nicht eingetreten. Im Gegenteil: während die Reichen in Deutschland immer reicher wurden und werden, steigt die Zahl der Menschen, für die sich Leistung eben nicht mehr lohnt. Für sie war und ist ein sozialer Aufstieg und der Aufbau von Vermögen durch eigene Leistung schlicht nicht mehr machbar.
Dringend notwendige Investitionen verschlafen
Dazu kommt, dass der Staat die notwendigen Investitionen vernachlässigt hat, um den Reichen und Wohlhabenden die Steuern erlassen zu können. Mit spürbaren Folgen, wie Julia Jirmann schreibt: „Die öffentliche Infrastruktur zerfällt, Deutschland hängt bei der Digitalisierung hinterher, die soziale Mobilität ist vergleichsweise schlecht, die Wohnungskrise wütet in den Ballungsräumen, und die einstige Vorzeige-Industrie, die Automobilbranche, hat den Strukturwandel verschlafen“.
Dazu kommt der riesige Investitionsbedarf, den die dringen notwendige öko-soziale Transformation braucht. „Der deutsche Staat muss nach aktuellen Berechnungen in den nächsten zehn Jahren etwa 60 Milliarden Euro zusätzlich investieren, um Infrastruktur, Wirtschaft und Gesellschaft zukunftsfähig zu machen“. Doch, wie wir alle wissen, steht das nicht in Aussicht. In der Ampelkoalition hat sich die FDP quer gestellt. Und dass die Union derlei Investitionen in einer künftigen Koalition gut heißen würde, ist mehr als fraglich.
Wir müssen umsteuern
Dabei hätten wir über Steuern eine ungeheure Gestaltungsmacht, meint Julia Jirmann: Progressive Steuersysteme besteuern Menschen mit viel Geld viel höher als solche mit wenig Geld. Das sorgt für soziale Gerechtigkeit. Im Grunde hat Deutschland ja auch ein progressives Steuersystem. Doch das wurde laut Jirmann in den letzten Jahrzehnten derart ausgehöhlt, dass Deutschland mittlerweile zwar ein Hochsteuerland für Menschen mit mittlerem Einkommen ist – jedoch ein absolutes Niedrigsteuerland für Menschen mit großen Vermögen.
So kommt es zum Beispiel, dass Menschen mit millionenschwerem Immobilienbesitz kaum Steuern zahlen müssen und riesige Gewinne anhäufen können. Damit einher gehen aber keine Verpflichtungen. Sie müssen zum Beispiel im Gegenzug keinen neuen, bezahlbaren Wohnraum schaffen.
Gleichzeitig könnten Steuern Anreize für ein zukunftsgerichtetes Verhalten schaffen. Zum Beispiel könnte eine angemessene CO2-Steuer dafür sorgen, das klimafreundliche Produkte günstiger sind als solche, die dem Klima schaden. Das ist derzeit nicht so. Und schließlich erhebt der Staat Steuern, damit er das, was der Markt nicht bieten kann, die Menschen aber brauchen, bereitstellen kann: Bildung, Verkehrsinfrastruktur, Justiz, Polizei, Kultur, Forschung und vieles mehr. „Die Art und Weise, von wem wie viele Steuern erhoben werden und für was und an wen sie verteilt werden, zeigt, welche Werte und Ziele [von der Politik] verfolgt werden“, schreibt Julia Jirmann in ihrem Buch „Black Box Steuerpolitik.
Mythen der Steuerpolitik
Dabei gibt es zahlreiche Mythen rund um die Steuerpolitik. Diese sorgen dafür, dass Parteien gewählt werden, die Gesetze beschließen, die keineswegs im Interesse der Bürger*innen sind. Doch die merken es nicht und nehmen es achselzuckend hin. Deshalb hat Julia Jirmann dieses Buch geschrieben. Sie will mit gängigen Steuermythen aufräumen.
Mythos 1: Der Staat holt sich immer mehr Steuern!
Jedes Jahr steigen die Steuereinnahmen doch! Wieso verfallen dann eigentlich Schulen und Brücken? Gibt der Staat unser hart verdientes Geld nur an den falschen Stellen aus? Dieses Bild zeichnen gerne die Politiker*innen, die sich für einen sogenannten schlanken Staat aussprechen. Also für einen, der möglichst wenig regelt (im Gegensatz zum sogenannten Wohlfahrtsstaat) und möglichst alles dem Markt überlässt.
Doch steigende Steuereinnahmen lassen sich quasi gar nicht vermeiden: Wenn die Wirtschaft wächst, steigen die Einkommen, der Konsum und damit die Preise. Also steigen auch die Steuereinnahmen – ganz ohne Steuererhöhung. Die Steuereinnahmen steigen nur dann nicht, wenn es einen starken Wirtschaftseinbruch gibt (wie etwa während der Finanzkrise oder der Corona-Pandemie). Oder wenn die Steuern massiv gesenkt werden (wie unter Gerhard Schröder). Dann jedoch müssen Staatsausgaben gestrichen werden. Soll alles so bleiben, wie es ist, braucht der Staat jedes Jahr mehr Steuereinnahmen. Allein um die Inflation auszugleichen.
Entscheidend ist damit nicht die absolute Höhe der Steuereinnahmen, sondern ihr Verhältnis im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Und das ist laut Jirmann seit den Sechzigerjahren gleich geblieben bei rund 23 Prozent (ausschließlich der Sozialabgaben, mit ihnen sind es 40 Prozent). Dass der Staat Rekordsteuereinnahmen hätte und sich immer mehr Steuern von den Bürge:innen holen würde, ist also ein Mythos. Allerdings, so Jirmann, hat sich verschoben, von wem die Steuern verhoben werden …
Mythos 2: Der Staat kann nicht mit Geld umgehen
Die Vorstellung, dass der Staat – im Gegensatz zum Markt – nicht vernünftig mit unseren Steuergeldern umgehen kann, hält sich hartnäckig. Gerne berichten Medien rauf und runter über Steuerverschwendung. Die Elbphilarmonie in Hamburg, der Flughafen in Berlin oder der Bahnhof in Stuttgart. Und tatsächlich: das Schwarzbuch Steuern listet laut Jirmann 100 Fälle von Steuerverschwendung auf. Doch sie kritisiert, dass nicht gesagt wird, wie die genannten Fälle günstiger hätten erreicht werden können. Oder ob die Höhe der Steuerausgaben aufgrund von Fehlern der Wirtschaft und nicht der Politik geschahen – etwa durch ein Bauunternehmen etc.
Addiert man all die „Verschwendungen“ zusammen, ergibt sich laut Jirmann für das Jahr 2023 ein Betrag von rund 3 Milliarden Euro. Das sind zirka 0,3 Prozent der jährlichen Staatsausgaben. Das klingt schon gar nicht mehr so furchtbar. Natürlich gibt es staatliche Steuergeldverschwendung, die skandalös sind. Stichworte wären hier: die PKW-Maut, der Maskenskandal oder die Verjährung der Cum-Ex-/Cum-Cum-Steuerskandale. Allein durch die Cum-Ex- und Cum-Cum-Betrügereien hat der Staat geschätzt 30 Milliarden Euro verloren. Und das Geld ist sicherlich in Taschen von ohnehin reichen Menschen gelandet.
Aber stimmt es, dass der Staat nicht mit Geld umgehen kann und es an allen Ecken und Kanten verschwendet? Laut Julia Jirmann wohl eher ein Mythos derjenigen, die sich den „schlanken“ Staat wünschen.
Mythos 3: Leistungstragende zahlen die meisten Steuern
Wenn es um die Besteuerung von Einkommen geht, unterscheidet Julia Jirmann zwischen den Steuern und den Sozialabgaben. Während die Sozialabgaben in Deutschland relativ hoch sind (aber auch das Sozialsystem relativ dicht), die reinen Einkommenssteuern liegen aber eher Mittelfeld. Durch die Beitragsbemessungsgrenze der Sozialabgaben, machen diese vor allem für Geringverdienende einen besonders großen Anteil aus. Ungerecht.
Geradezu zum Niedrigsteuerland ist Deutschland für diejenigen geworden, die nicht vom Einkommen aus Arbeit abhängen, sondern ihr Einkommen aus großen Vermögen beziehen. Für hohe Vermögenseinkommen, wie Dividenden Zinsen, Wertsteigerungen und Mieteinnahmen gelten in Deutschland Sonderregelungen.
Das führt zum Beispiel dazu, dass der Vorstand eines DAX-Konzerns auf sein Millioneneinkommen aus Arbeit zwar den Reichensteuersatz zahlt. Die Familie, der der DAX-Konzern gehört, sehr viel günstiger wegkommen. Menschen mit mehr als 50 Millionen Euro Vermögen sind also kaum belastet. Sie können über den Umweg von sogenannten Holdinggesellschaften selbst die relativ geringe Vermögenssteuer von 25 Prozent umgehen. Und so liegen die Steuersätze für Superreiche oft unter denen der Mittelschicht, meint Jirmann. Rechne man die Sozialabgaben mit ein, seien die Steuersätze der Mittelschicht oft doppelt so hoch wie die der Superreichen.
Ähnliches gilt für große Konzerne im Verglich zu mittelständischen Unternehmen. Die Konzerne nutzen alle Tricks über Niedrigsteuerländer, um ihre effektiven Steuersätze zu minimieren. Mittelständische Unternehmen haben diese Möglichkeiten nicht.
Mythos 4: Arme Menschen zahlen weniger Steuern
Wenn wir das gesamte Steuersystem betrachten, wird die Situation noch ungerechter. Fast die Hälfte aller Steuereinnahmen in Deutschland kommen von sogenannten indirekten Steuern. Dazu gehören zum Beispiel die Mehrwertsteuer und Verbrauchssteuer auf Produkte wie Energie, Tabak, Alkohol oder KfZ-Nutzung. Dabei gilt für alle Menschen der gleiche Steuersatz.
Zum Beispiel zahlen alle für das gleiche Produkt beim Einkaufen 19 % Mehrwertsteuer – egal, ob sie viel Geld verdienen oder wenig. Menschen mit geringem Einkommen müssen aber im Vergleich einen viel größeren Anteil an ihrem Einkommen für diese Produkte ausgeben, als Menschen mit hohem Einkommen. Sie zahlen also relativ gesehen einen viel größeren Anteil der Mehrwert- und Verbrauchssteuern. Superreiche werden hiervon relativ gesehen so gut wie gar nicht belastet. So betrachtet, mein Julia Jirmann, tragen Menschen mit wenig Einkommen sogar relativ gesehen mehr als die Superreichen!
Julia Jirmann
Betriebs- und Volkswirtin sowie Wirtschaftsjuristin, leitet den Bereich Erbschaft & Vermögen sowie Einkommensteuer des Netzwerks Steuergerechtigkeit e.V. (https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/). Zuvor war sie tätig für die Beratungsgesellschaft KPMG AG im Bereich International Tax sowie als Referentin für den Bund der Steuerzahler. Sie ist Mitglied der Kommission »Recht der sozialen Sicherung & Familienlastenausgleich« des Deutschen Juristinnenbundes.
Umsteuern und Demokratie stärken!
Das alles sind keine guten Nachrichten. Zumal sich die Ungleichheit im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr verschlechterte. Doch ein Umsteuern ist möglich! Das Steuersystem ist von Menschen gemacht. Und Menschen können es auch wieder ändern. Das ist dringend notwendig. Denn ungerechte Steuern und damit eine stark ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen gefährdet unsere Demokratie. Und zwar, in dem es unser aller Leben entscheidend beeinflusst.
Zum Beispiel ist nachgewiesen, dass Kinder aus wohlhabenden Familien eine viel bessere Bildung bekommen, als solche aus ärmeren oder armen Familien. Nicht, weil sie intelligenter wären. Sie werden nur mehr gefördert. An sich werden andere Erwartungen gerichtet. Doch die Ungerechtigkeit zieht sich nicht nur durch die Kindheit und Jugend. Armut belastet Menschen ein Leben lang. Reichtum privilegiert Menschen in vielerlei Hinsicht.
Reiche Menschen können es sich zum Beispiel leisten, sich eine Auszeit zu nehmen, um sich persönlich weiter zu entwickeln oder sich zu erholen. Sie können sich die Zeit nehmen, um Angehörige zu pflegen. Sie haben einen viel einfacheren Zugang zu Kultur, Sport, Reisen, Freizeitaktivitäten. Sie können wichtige Lebensentscheidungen viel freier treffen. Kein Wunder, dass sie sich auch viel mehr politisch einbringen können (etwa über Bürgerentscheide). Dass die Politik auf ihre Meinung viel mehr Rücksicht nimmt. Und dass sie laut Studien im Schnitt länger und gesünder leben.
Alternativen: jetzt!
In ihrem Buch beschreibt Julia Jirmann nicht nur die Schwachstellen und Ungerechtigkeiten unseres Steuersystems (und es sind noch viele mehr als die, die ich hier aufgeschrieben habe!). Sie schlägt auch Lösungen vor und zeigt Alternativen auf. Zu ihren Forderungen gehört:
- Eine Mindeststeuer auf das Vermögen von Superreichen (mindestens 2 Prozent)
- Keine Steuerentlastungen für Unternehmen und Superreiche (der Trickle-Down-Effekt ist ein Mythos)
- Eine weltweite Milliardärssteuer (wird bereits in der Gruppe der G20-Finanzminister*innen erarbeitet)
- Abschaffung des Ehegattensplittings (würde zur Geschlechtergerechtigkeit und dem Abbau des Fachkräftemangels beitragen)
- Steuern auf untypisch hohe Monnopolgewinne (Übergewinne) von globalen Konzernen
- Neue Steuerregeln für Immobilien, die Macht- und Vermögenskonzentration verhindern
- Erbschafts- und Schenkungssteuer, die für eine Umverteilung sorgen
- Eine Bürgerversicherung für alle, auch Beamte, Selbständige und Menschen mit hohem Einkommen
Fazit: Kein Krimi, aber lesenswert
Ja, es stimmt schon: Steuerpolitik ist ein bisschen trocken. Ich habe das Buch nun nicht unbedingt verschlungen wie einen spannenden Krimi. Doch wenn es um Demokratie geht, dann gehört es eindeutig in die Liste der „must read“-Bücher. Denn es reicht nicht, hier und da etwas zu ändern. Wir brauchen echte, strukturelle Korrekturen, um den sozialen Frieden in unserem Land zu wahren. Um Gerechtigkeit und Teilhabe für alle zu sichern. Und damit auch das Vertrauen in die Demokratie, die Bereitschaft auch unbequeme Veränderungen mitzumachen und so gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der ein gutes Leben für alle möglich ist. Steuern – so unsexy sie auch sein mögen – spielen da eben auch eine wesentliche Rolle …
P.S. Im „Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2024“ von Julia Jirmann und Christoph Trautvetter findest du auch jede Menge Informationen, Infografiken und Analysen (daraus stammen auch die Infografiken und das Aufmacherbild in diesem Beitrag!). Lesenswert!
Bibliografische Angaben
„Black Box Steuerpolitik. Wie unser Steuersystem Ungleichheit fördert. Ein Reformvorschlag“
Julia Jirmann, Dietz Verlag, ISBN 978-3-8012-0682-6, 20 Euro
Seit die Brücke in meiner Stadt, über die wenige Stunden vorher noch gefahren bin, einstürzte und nun die nächste gesperrt ist, so dass nur noch eine Elbfähre oder ein 50km Umweg möglich ist, sehe ich vor allem die Vernachlässigung der Infrastruktur als besonders kritisch. Man sagt ja, dass selbst der verbaute Beton der Wohnungen auch nicht für diese Dauerverwendung gedacht ist …. mehr als 80 Jahre sind es wohl nicht und dieses Alter ist demnächst erreicht ….