Mut zum Unmut! Das fordern die beiden Journalisten Matthias Meisner und Paul Starzmann. Sie finden: Es gibt zu wenig Renitenz in unserer Gesellschaft. Das hat mich angesprochen, denn renitent zu sein, das fällt auch mir schwer …
Schlechte Nachrichten, Resignation und Bequemlichkeit finden sich zuhauf in unserer Zeit. Zumindest wenn man den beiden Journalisten Matthias Meisner und Paul Starzmann glaubt. Die beiden haben deshalb ein Buch geschrieben. Sein Cover ziert ein Ziegenbock und der ist Programm! Denn mit diesem Buch – das laut Untertitel auch „eine Anleitung zur politischen Widerspenstigkeit“ sein soll – wollen die beiden zeigen, wieso wir gerade in diesen Zeiten eine gewisse Renitenz und Bockigkeit besonders nötig haben.
Nie wieder ist jetzt – warum ich dieses Buch gelesen habe
Mich hat das Buch sofort angesprochen, als ich die Vorschau vom Verlag erhielt. Der Grund ist, dass ich schon länger das ungute Gefühl habe, nicht genug zu tun – aus Mutlosigkeit. Vielleicht hast auch du in letzter Zeit mal festgestellt „Früher habe ich mich immer gefragt, wie die Menschen das Dritte Reich zulassen konnten. Heute weiß ich, wie sich so etwas schleichend entwickelt und kein Mensch so richtig weiß, was er dagegen unternehmen soll“.
Diesen Gedanken habe ich nun schon von vielen Menschen in meinem Umfeld gehört. Gleichzeitig kommt mir dabei immer eine Frage in den Kopf, die ich mir auch schon damals in der Schule gestellt habe, als wir Anne Franks Tagebuch lasen und im Geschichtsunterricht den Holocaust durchnahmen: „Wie hätte ich mich verhalten? Hätte ich den Mut gehabt, mich dem entgegenzustellen?“ Ich zweifele, denn ich merke doch, dass es mir sehr schwerfällt anzuecken, mit moralischen Vorstellungen als Außenseiterin zu gelten, zu widersprechen, wenn damit wirkliche Risiken verbunden sind. Wie also machen das andere? Vor diesem Hintergrund habe ich das Buch gelesen.
Ist Renitenz denn etwas Positives?
Was würdest du denn sagen: ist Renitenz, Widerborstigkeit und Bockigkeit etwas Positives? Es kommt wohl darauf an … Wenn jemand störrisch um der Störrigkeit willen ist, dann ist Renitenz sicherlich keine große Hilfe, für niemanden. Starzmann und Meisner sprechen in dem Fall deshalb auch lieber von Reaktanz anstatt von Renitenz. Das soll den Unterschied deutlich machen. Und der besteht im Motiv der Widerborstigkeit. Wer nur wegen des eigenen Egos widerspricht, findet bei Starzmann und Meisner wenige Unterstützung. Als Beispiel könnte hier ein Kleinkind dienen, das sich im Supermarkt schreiend auf dem Boden wälzt, weil es nun mal Süßigkeiten will. Ähnliche Verhaltensweisen finden wir aber auch bei Erwachsenen …
Wer hingegen bockig ist, weil es um Prinzipien, Werte und Gerechtigkeit geht – den finden die beiden Autoren gut. Von dieser Art von Mensch wünschen sie sich mehr. Wieso? Wie genau? Wen nehmen sich die beiden zum Vorbild? Genau das erfährst du in ihrem neuen Buch „Mut zum Unmut“. Praktischerweise haben sie es in 15 verschiedene Themenkapitel unterteilt. So kann sich jede:r Leser:in die Aspekte des Renitenz-Trainings aussuchen, die sie oder ihn interessiert. Zur Wahl stehen unter anderem Aspekte wie „Wohnen“, „Arbeit“, „Protest“, „Politik“, „Frauen“, „Staat“, „Medien“ oder auch „Bündnisse“.
Lässt sich Renitenz lernen?
Okay, diese Frage ist ein bisschen rhetorisch. Meine Antwort: Klar, auf jeden Fall! Doch leider erziehen wir unsere Kinder mehrheitlich zum Gegenteil. Damit beginnt auch gleich das Buch „Mut zum Unmut“. Es zeigt im ersten Kapitel auf, wie wir Erwachsenen unseren Kindern von klein auf beibringen, dass es sich lohnt, sich anzupassen und die Erwartungen anderer zu erfüllen. Aufsässigkeit, Trotz und Störung hingegen bringt Ärger. Und wer will den schon? Und genau hier beginnt die Krux.
Denn natürlich wollen auch die meisten Erwachsenen keinen Ärger. Manche haben keine Wahl – etwa weil sie zu einer diskriminierten Gesellschaftsgruppe gehören. Sie müssen eine gewisse Renitenz entwickeln, ob sie wollen oder nicht. Das sind zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund oder Frauen. Wenn sie in Bereiche vordringen wollen, in die sie üblicherweise kaum oder keinen Zugang bekommen, dann müssen sie dafür kämpfen. Nun frage ich mich: Wenn jedoch Personengruppen, die vom Status quo profitieren, widerborstig sind, weil sie keine Veränderung in Richtung Gerechtigkeit wollen … dann wäre das Reaktanz?
Aber wer oder was entscheidet, wann Renitenz der guten Sache dient und wann nicht? Das Buch beantwortet diese Frage mit zahlreichen Geschichten von vielen verschiedenen Vorbildern und klassischen gesellschaftlichen Konfiktlinien aus. Zum Beispiel: die Arbeitnehmenden. In den letzten Jahrzehnten wurde die Arbeit immer mehr verdichtet. Bedeutet: Weniger Personen sollen in der gleichen Zeit mehr Arbeit erledigen. Sich in dieser Situation zu wehren erfordert viel Mut. Und auch ein dickes Fell! Die in diesem Buch beschriebenen Fälle zeigen, dass manche Arbeitgebenden auch vor massiver Einschüchterung, Verunglimpfung und Verleumdung etc. nicht zurückschrecken. Gleichzeitig zeigt das Buch beeindruckende Beispiele von mutigen Menschen, die trotzdem aufstehen, laut werden, kämpfen – und sich nicht so leicht abwimmeln oder einschüchtern lassen.
Vorbilder der Renitenz
Dass das Buch so voller Vorbilder ist, an denen ich mich orientieren kann, gefällt mir gut. Dazu gehören historische Figuren wie Petra Kelly oder Rosa Luxemburg. Dazu zählen aber auch zeitgenössische Kämmpfer:innen. Von Ex-SPD-Politiker Kevin Kühnert und Feministin Anne Wizorek über den CDU-Politiker Marco Wanderwitz und der Ärztin Kristina Hänel bis hin zu der Journalistin und Theaterpädagogin Marie von Kuck und der Linken-Politikerin Heidi Reichinek. Das Buch ist voller Geschichten von Menschen, die zeigen, wie es aussieht, wenn man mutig und renitent ist.
Mit einigen haben Matthias Meisner und Paul Starzmann auch gesprochen. Leider hat das Buch erzählerische Schwächen. Über lange Passagen reiht sich ein indirektes Zitat an das nächste, ohne das es eine rote Linie mit Übergängen und Verbindungen gibt. Das mindert die Freude beim Lesen. Und ich habe mich auch gefragt, wieso die Autoren denn nicht zumindest ab und an eine eigene Meinung vertreten oder als Mensch in irgendeiner Weise in ihren Texten sichtbar werden. Das hätte – bei dem tollen Ausgangsmaterial, das die beiden bestimmt haben – vrmutlich ein tolles erzählendes Sachbuch gegeben. Eine vertane Chance, wie ich finde.
Eine Anleitung zur politischen Widerspenstigkeit
Was mir gut gefällt ist die Idee, dem Sachbuch einen How-to-Touch zu geben. Ein Kapitel beschäftigt sich zum Beispiel mit der Frage, wie man als renitenter Querulant Bündnisse herstellen kann. Denn bei aller Quertreiberei – ohne Unterstützung kommt auch der gewiefteste Sturbock nirgendwohin. Schulterschluss also „ja“. Widerworte und Streit „nein“? Sicherlich ist es eine Gratwanderung. Auf der einen Seite muss man irgendwo mit irgendwem Einigkeit herstellen. Auf der anderen Seite ist es eben auch wichtig, zu widersprechen, wenn man anderer Ansicht ist.
Wie weit kann man dabei gehen? In Deutschland nicht so weit. Laut Matthias Meisner und Paul Starzmann tendieren wir in Deutschland hin zu einer Kultur, in der Widerspruch – und erst recht vehementer Widerspruch – als grobe Unhöflichkeit betrachtet wird. Meist werden solche Leute gemieden. Das beschreiben die beiden auch an vielen Fällen. Zum Beispiel ist es für Arbeitgebende eine typische Strategie, aufsässige Mitarbeitende zu vereinzeln. Ohne dass es direkt ausgesprochen werden müsste, wissen die Kolleg:innen meist, dass es für sich „gefährlich“ ist, zum viel Nähe zu solchen Menschen zu haben. Das macht die Sache natürlich schwieriger.
Die 12 Gebote der Renitenz
Wer nach der Lektüre dieses Buches denkt: „Jetzt trainiere ich meinen Renitenz- und Mutmuskel aber!“ (jetzt erst recht!), der findet am Ende des Buches noch die 12 Gebote der Renitenz, die da wären:
- Check die Realität
- Wut ist gut
- Wer ist mit mir? (Finde Verbündete)
- Bleib bei deiner Entscheidung
- Merke dir deine Erfolge
- Setze Grenzen
- Akzeptiere keine Grenzen
- Hab Spaß
- Bringe Opfer
- Bleib fair
- Geh auf Distanz
- Mach kleine Schritte
Fazit: Mut zum Unmut
Ich muss gestehen, dass ich selbst nicht zur Renitenz neige. Mir fällt es schwer, Widerspruch zu leisten. Viel zu oft bleibe ich stumm. Daran möchte ich arbeiten. Vermutlich hat mich auch deshalb der Titel sofort angesprungen. Nach der Lektüre kann ich sagen: „Mut zum Unmut“ hat mich motiviert, mich mehr zu trauen und renitenter zu werden. Ich habe für mich erkannt: Das ist ein Weg. Niemand wird so geboren. Aber man kann sich darin üben, immer wieder die eigenen Grenzen zu überschreiten. Immer wieder die Unbequemlichkeit und das Risiko auf sich nehmen. Nur so können wir eine bessere Welt erreichen!
Wichtig dabei ist, dass ich darauf achte, nicht um des Kämpfens willen zu kämpfen – sondern dort, wo es angebracht und sinnvoll ist. Dabei kann ich u.a. auch abwägen, wie groß wohl meine Erfolgsaussichten sind. Wobei – das machen Matthias Meisner und Paul Starzmann in ihrem Buch mehr als klar – viel zu viele Menschen ihre Erfolgsaussichten viel zu sehr unterschätzen. „Einfach mal ausprobieren und auch nicht beim ersten Gegenwind gleich klein beigeben“ ist wohl eines der wesentlichen Erfolgsrezepte, die ich von den vielen Beispielen in diesem Buch mitgenommen habe.

Mut zum Unmut. Eine Anleitung zur politischen Widerspentigkeit
Matthias Meisner und Paul Starzmann
Dietz Verlag
ISBN 879-3-8012-0707-6
22 Euro
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