Wie kann ich mich in dieser Welt mit all seinen Sachzwängen, aber ohne Zeit so für eine bessere Welt engagieren, dass ich wirklich etwas bewege – und dennoch nicht ausbrenne? Der Aktivist und Bildungsreferent Timo Luthmann hat da ein Konzept: Es nennt sich Nachhaltiger Aktivismus!

Seit über zwanzig Jahren ist Timo Luthmann bereits als Aktivist politisch aktiv – in den letzten paar Jahren vor allem beim Klimaschutz im Allgemeinen und beim Klima*Kollektiv (https://klimakollektiv.org) im Speziellen. Als solcher hat er sicherlich alle Höhen und Tiefen erlebt, die der politische Aktivismus mit sich bringt: Die aufreibende Arbeit und der Frust, wenn sich dennoch scheinbar kaum etwas bewegt. Das ständige Gefühl noch mehr leisten und noch wirkungsvoller sein zu müssen – immerhin geht es um Viel. Und schließlich das Loch, in das man stürzen kann, wenn es einfach nicht mehr weitergeht. Wenn die Gesundheit nicht mehr mitspielt, die Seele streikt.

Über viele Jahre hinweg hat sich Timo Luthmann daher damit beschäftigt, wie es besser gehen könnte: Wie können wir uns politisch so engagieren, dass wir nicht ausbrennen? Wie sieht ein politischer Aktivismus aus, der kein individuelles Strohfeuer von einigen Jahren (etwa während des Studiums) ist, sondern eine lebenslange Bereicherung? Timo hat dazu jede Menge Bücher gelesen, die daraus gewonnenen Erkenntnisse weiter entwickelt und systematisiert – und ein Buch geschrieben, das wir für absolut lesenswert halten. Ja, es war so spannend, dass wir unbedingt mit ihm persönlich sprechen wollten. Und hier ist das Interview:

Wer bist du und was machst du?

Timo Luthmann: Ich bin Bildungsreferent und politisch tätiger Mensch. Gerade konzentriere ich mich auf aber auf die Bildungsarbeit für Aktivist*innen, habe das Handbuch für Nachhaltigen Aktivismus geschrieben und biete seit mehreren Jahren verschiedene Kurse an. Dabei geht es mir um eine strategische Schulung von Menschen, die interessante Multiplikator*innen sind und die an der Basis etwas bewegen wollen. Das können 1,5- bis 2-Stunden-Veranstaltungen sein, Halb- oder Ganztages-Workshops sowie Wochendendseminare – oder auch zehntägige Retreats für Aktivist*innen. Wer sich dafür interessiert, kann meinen Newsletter abonnieren, um auf dem Laufenden zu bleiben: https://nachhaltigeraktivismus.org

Was ist Nachhaltiger Aktivismus?

Timo Luthmann: Nachhaltiger Aktivismus ist ein Konzept, das ein langfristiges, politisches Engagement unterstützt. Nach meiner Definition besteht es aus drei Säulen: Die erste Säule ist Reflexion über soziale Veränderungen und Strategien. Also wie stellen wir uns soziale Veränderung eigentlich vor? Und wie sieht die Praxis dazu aus?

Die zweite Säule sind individuelle Resilienzstrategien. Resilienz bedeutet – etwas salopp ausgedrückt – so viel wie Widerstandskraft. In dieser Säule geht es darum, was ich als Individuum tun kann, um mit schwierigen Situationen besser umgehen zu können. Um besser in Balance zu bleiben und mehr Energie für einen langen Atem zu haben.

Die dritte Säule sind kollektive Resilienzstrategien. Also die Frage, was wir gemeinsam tun können, um nicht auszubrennen. Das bezieht sich einerseits auf eine Gruppe oder einen Zusammenhang – also dort, wo jemand direkt aktiv ist. Es lässt sich aber auch größer betrachten, zum Beispiel innerhalb einer sozialen Bewegung: Welche Dinge können sie widerstandsfähiger oder stabiler machen? Und schließlich lässt sich das auch noch mal auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sehen.

Ist der Begriff des Nachhaltigen Aktivismus neu?

Timo Luthmann: Nein, den Begriff gibt es schon länger. Allerdings eher im angloamerikanischen Raum. Mir war es wichtig im deutschsprachigen Raum dazu eine Einführung zu geben und die Diskurse rund um den Nachhaltigen Aktivismus zugänglich zu machen. Deshalb habe ich alle mögliche englischsprachige Literatur dazu gelesen. Dann habe ich das Konzept noch einmal genauer definiert und zum Beispiel die drei Säulen entwickelt.

Warum ist Nachhaltiger Aktivismus notwendiger denn je?

Timo Luthmann: Weil es ein Schlüsselrezept ist, um als Soziale Bewegung erfolgreich zu sein. Soziale Bewegungen haben das Problem, dass sie keine starken Institutionen haben. Das bedeutet, wenn Menschen ausscheiden – aus welchen Gründen auch immer – entstehen dort zum Teil riesige organisatorische Lücken. Wissen geht verloren und Netzwerke. Und dann fängt alles wieder von vorne an und der oder die Nächste muss alles wieder aufbauen. Nachhaltiger Aktivismus will dem entgegenwirken und zwar auf individueller und kollektiver Ebene.

Denn soziale Bewegungen sind in meinen Augen die entscheidende Triebfeder Sozialer Innovationen: von der Frauenbewegung über die Ökologie- und Arbeiterbewegung bis hin zur Gender-Gerechtigkeit war immer das Maßgebliche die Kraft von unten. Und deshalb ist es total wichtig, dass wir reflektieren, wie wir uns die Veränderung vorstellen und wie sie funktioniert. Nachhaltiger Aktivismus kann diese Arbeit sehr viel erfolgreicher machen, in dem er individuelle und kollektive Resilienzstrategien empfiehlt, die politisches Engagement dauerhafter machen.

Für das Individuum geht es aber auch darum, dass jede und jeder von uns mit den großen Herausforderungen, vor denen wir täglich stehen, besser umgehen können. Es geht auch darum, dass wir als Einzelne ein glückliches Leben führen und trotzdem politisch aktiv sein können. Und dass es nicht nur um eine Phase von ein paar Jahren geht – zum Beispiel während des Studiums. Sondern dass wir uns langfristig politisch engagieren können ohne auszubrennen.

Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen vor denen wir stehen, ist das eine immense Aufgabe. Denn egal ob man sich die Klimakrise ansieht oder den Rechtsruck und den aufkommenden Rassismus: Der Druck auf den Einzelnen, die Gemeinschaft und die Gesellschaft ist hoch und wird auch noch steigen. Da einen kühlen Kopf zu bewahren wird immer schwieriger, ist aber eben umso wichtiger, wenn wir politisch tatsächlich etwas bewirken wollen.

Bist du Pessimist oder Optimist?

Timo Luthmann: Unser produktives Potential ist enorm. Aber wir haben auch eine kolossale Zerstörungskraft entwickelt. Da müssen wir ethisch erst einmal hinterherkommen. Wenn ich mir die Klimakrise anschaue, dann laufen wir sehr schwierigen Zeiten entgegen. Da sieht es gerade sehr schlecht aus. Das multipliziert aber wiederum alle sozialen Krisen: Wenn sich das Klima verschlechtert werden wir mehr Ernteausfälle haben, Regen wird ausbleiben oder zu viel sein. Die Biodiversität wird sinken und die Ressourcen insgesamt weniger werden. Dann brauchen wir die kulturell bisher einmalige Leistung, darauf nicht reaktionär, sondern progressiv zu reagieren. Das ist die Herausforderungen, vor der wir stehen.

Der Nachhaltige Aktivismus versucht nun die Grundwerkzeuge zu liefern, um für die unterschiedlichsten Situationen gut aufgestellt zu sein. Er schafft erst einmal eine Grundlage – jede und jeder kann sich dann mit den verschiedenen Teilaspekte immer tiefer auseinandersetzen. Nachhaltiger Aktivismus liefert aber eben schon mal die verschiedensten Werkzeuge, Methoden und Erzählungen, die uns auf jeden Fall stärken können. So können wir dann auch mit schwierigen Situationen umgehen.

Wen sprichst du mit deinem Buch vor allem an?

Timo Luthmann: Meine Motivation war es, jungen Menschen, die gerade erst anfangen, gewisse Fallstricke zu ersparen. Natürlich muss jede und jeder ihre oder seine Erfahrungen selbst machen. Aber ich glaube mit dem Handbuch lassen sich doch viele Zusammenhänge erkennen. Und dann gibt es in dem Buch immer noch Tipps, wo man weiterlesen kann. So soll die Lernkurve einfach steiler werden. Für die erfahrenen Leute ist es einfach ein Werkzeugkasten, wie sie ihre Praxis reflektieren können.

Allerdings wendet es sich nicht nur an die sogenannten Vollzeitaktivist*innen. Die sind natürlich das Salz in der Suppe der Sozialen Bewegungen. Doch Nachhaltiger Aktivismus zeigt, dass wir alle gemeinsam ziemlich viel bewegen können, wenn viele ein bisschen was machen. Das soll auch die Menschen ermutigen zu denken „Ich kann zwar nicht an dem ganz großen Rad drehen – aber das in meinem Stadtteil oder diese kleine Aufgabe, da kann ich mich drauf konzentrieren und das bringt auch etwas“. Ich möchte die Menschen ermutigt ihre Lücke zu finden, in der sie das ganz große Puzzle bereichern können.

Was sind denn die Resilienzstrategien für den Einzelnen?

Timo Luthmann: Wichtig sind vor allem Pausen- und Ruhezeiten, auch für die Reflexion. Dass man sich immer wieder fragt: Was mache ich? Was stresst mich? Wo bekomme ich meine Energie her? Ich halte insgesamt sehr viel von dem Konzept der Achtsamkeit. Das ist für mich eine Schlüsselkompetenz, die zu kultivieren ein sehr großes Potential hat und sich auf die verschiedensten Bereiche auswirkt.

Dann ist es wichtig, dass man sich auch Ziele steckt – denn nur so können wir sie erreichen und das motiviert unheimlich, schafft Zufriedenheit und zeigt, dass wir etwas verändern können. Dabei ist auch wichtig, dass wir lernen, bewusst mit unserer Aufmerksamkeitsökonomie umzugehen. Wir sind ja ständig von Medien umgeben, die unsere Aufmerksamkeit wollen – aber wie können wir sie auf die wirklich wichtigen Dinge lenken und dabei bleiben?

Und dann sind auch noch ganz banale Dinge wichtig wie genug trinken, gesund essen und ausreichend Bewegung. Dass wir gut mit unserem Körper umgehen ist unheimlich wichtig, Über ihn bekommen wir auch Zugang zu unseren Emotionen und Gefühle sind eine ganz große Ressource. Die sollten wir als unsere Freundin betrachten, auch wenn sie manchmal etwas unbequem sind. Doch da steckt eine ganz große Kraft drin.

Spiritualität ist mir persönlich ebenfalls wichtig. Andere die Menschen sind eher philosophisch veranlagt. Wichtig ist nur, dass man etwas hat, was dem eigenen Handeln Sinn gibt. Über den Sinn kommen wir dann wiederum zu Strategiefragen, also: was muss ich tun, damit ich tatsächlich etwas bewegen kann? Wie kann ich tatsächlich eine Wirkung erzielen? Da verknüpft sich dann die persönliche Dimension mit der strategischen Dimension. Dass ich glaube, etwas bewegen zu können und wirkmächtig zu sein gibt sehr viel Energie und Kraft zum Weitermachen.

Eine weitere Ebene ist die Verbindung der kollektiven mit der individuellen Ebene: Freundschaften und Netzwerke. Weil wir eben soziale Tiere sind, bekommen wir ganz viel Kraft und Motivation, wenn wir ein unterstützendes Umfeld haben. Wenn wir in der Gruppe aktiv sind, in der wir eine positive Resonanz erfahren. Das ist sehr motivierend. Und so gibt es da auch eine Verknüpfung zur kollektiven Ebene.

Was macht eine Gemeinschaft oder Gruppe resilient?

Ein ganz wichtiger Faktor ist die Kommunikation: Wie gehen wir miteinander um? Wie reden wir miteinander? Wie wird Wertschätzung verteilt? Wie geben wir Feedback? Wie kritisieren wir uns? Und wie gehen wir mit Konflikten um? Konflikte sind ja völlig normal und in ihnen entsteht ganz viel – allerdings nur, wenn wir konstruktiv damit umgehen. Das Gleiche gilt für die Art und Weise, wie wir soziale Emanzipation erstreiten.

Deshalb ist es wichtig, das wir da genau hingucken. Hier spielt wieder die individuelle Fähigkeit der Achtsamkeit eine wichtige Rolle: Mit ihr sind wir sensibel für diese Dimension. Man weiß dann, was man gerade spürt. Oder wie man mit anderen kommuniziert. Oder wie man auf sie wirkt. Oder wie man mit Dissenz in der Gruppe umgeht.

Auch die Projekte selbst zu reflektieren und sie gemeinsam gut zu beenden ist wichtig. Manchmal kommt es vor, dass eine Gruppe von Projekt zu Projekt springt und keines so richtig beendet. Das zieht manchmal noch weiter Energie. Auch eine passende Organisationsform und Entscheidungsstruktur zu finden ist ein wichtiger Aspekt für die gemeinschaftliche Resilienz. So können Gruppen viel Konfliktpotential gut gemeinsam lösen.

Und schließlich spielt die Kommunikationskultur eine wichtige Rolle: Also gibt es bei Treffen eine Moderation? Ein schwieriger, aber auch sehr wichtiger Aspekt ist, wie eine Gruppe mit Ausschlusskriterien umgeht oder auch mit Unterdrückung aufgrund von Geschlecht, Klasse oder Hautfarbe. Um über solche Themen in der Gemeinschaft nachdenken zu können braucht es Mut, Achtsamkeit und auch Vertrauen. Aber das ist für Menschen auch ein sehr hoher Frustfaktor und lässt sie ausbrennen. Wer Ausschlüsse abbauen kann, der eröffnet dem Projekt neue Potential, denn dann können mehr Menschen daran mitwirken. Und das macht es natürlich auch stärker oder resilienter.

Das bedeutet, dass sich soziale Bewegungen auch mit ihren dunklen Seiten auseinandersetzen müssen. Das braucht aber auch eine Form von emotionaler Sicherheit und eine Konfliktkultur, die trotzdem noch wertschätzend bleibt und es eine Fehlertoleranz gibt. Das ist ganz wichtig, denn wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, dann müssen wir bei uns selbst anfangen. Erst dann können wir die Werte glaubhaft vertreten. Das steckt wiederum andere an und macht eine Gruppe attraktiver für Menschen, die dann auch mitmachen wollen.

Hast du einen Appell an die Leser*innen?

Timo Luthmann: Ja: Gehe deinen Weg eigenständig. Frage dich: Was möchte ich wirklich? Und dann suche danach und erschließe dir deine Kraftquellen. Schau dich auch um, wo du diesen Weg gemeinsam mit anderen gehen kannst. Und sei solidarisch mit Menschen, die vielleicht beiseite stehen. Die zum Beispiel Hilfe brauchen, weil sie sich stark engagiert haben und nun einfach mal Ruhe brauchen. Oder die in einer prekären Situation sind. Oder die Kinder bekommen haben und eine Babypause machen oder sich verstärkt um ihren Nachwuchs kümmern.

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Politisch aktiv sein und bleiben
Handbuch Nachhaltiger Aktivismus

von Timo Luthmann

ISBN 978-3-89771-250-8
424 Seiten |  Softcover | 19,80 Euro

Unrast Verlag Münster

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