Im Anthropozän ist der Mensch das Maß der Dinge. Nun, oder zumindest für den Menschen selbst. Er fragt sich: Lohnt sich der Klimaschutz? Können wir uns Artenschutz leisten? Und wie viel ist die Ökosystemdienstleistung der Erde eigentlich in Euro wert? Doch allein die Perspektive stimmt nicht …

Was ist das Anthropozän und was bewirkt es?

Der Chemiker und Atmosphärenforscher Paul Crutzen hat das Wort »Anthropozän« zusammen mit dem Biologen Eugene Stoermer in die Diskussion eingebracht: Die beiden Wissenschaftler wollen damit ausdrücken, dass wir vor einiger Zeit in eine Epoche eingetreten sind, in der die Menschen zum wichtigsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden sind. Wir Menschen sind zum Beispiel für das sechste große Massenartensterben verantwortlich. Das ist zuletzt einem Meteoriten gelungen, der zum Beispiel dafür sorgte, dass die Dinosaurier ausgestorben sind.

Im März 2024 wurde der Vorschlag, das Wort »Anthropozän« offiziell zur neuen, geochronologischen Epoche zu erklären, von der International Commission on Stratigraphy abgelehnt. Dennoch: die Idee ist in der Welt. Der Mensch hat sich selbst zum entscheidenden Faktor erklärt. Das kann man positiv sehen: es soll diejenigen aufrütteln, die ungeachtet der Folgen die Erde ausbeuten. Aber ist das geschehen? So, wie es scheint, nicht. Es scheint eher, dass seit dem so gut wie alles am Nutzen für diese eine Spezies gemessen wird. Vor allem, wenn es darum geht, Geld für den Schutz von Pflanzen, Tieren, Ökosystemen oder Klima auszugeben.

Vom Anthropozän zum Chthuluzän?

In letzter Zeit habe ich drei empfehlenswerte Bücher gelesen, die in mir etwas bewegt haben. Eine Veränderung meines Blickwinkels. Eine Neuausrichtung meiner Perspektive. Sie alle drei haben mir auf unterschiedliche Weise gezeigt, dass der Mensch eben nicht das Maß aller Dinge ist. Und dass uns hierbei das Wort »Anthropozän« ja vielleicht in die Irre führt. Wieso sprechen wir nicht vom »Kapitalozän« – immerhin sehen sich unglaublich viele Menschen durch das System irgendwie dazu gezwungen mit ihrem eindeutig schädlichen Verhalten weiterzumachen. Wieso reden wir nicht vom »Chthuluzän«, wie die utopische Feministin Donna Haraway fordert.

Und falls du dich nun fragst, was »Chthuluzän« bedeutet: es soll sich aus dem Namen einer Spinne »Pimoa cthulhu« und dem griechischen Wort »khthôn« (erdgebundene Wesen) zusammensetzen. Damit spielt Haraway auf eine neue Perspektive an, die wir Menschen brauchen, wenn wir die gegenwärtigen ökologischen Krise überwinden wollen. Auf ein Zeitalter, indem wir Menschen über unsere menschliche Perspektive hinauswachsen. Ein Zeitalter, in dem wir ganz neue Verbindungen und Interaktionen mit anderen Lebensformen eingehen. In der wir unsere Verwandtschaft mit allem Leben auf der Erde erkennen. Und in der wir unser Zusammenleben mit all diesen Verwandten neu gestalten.

Lesetipps zur Überwindung des Anthrozäns

Aber zurück zu den Büchern – hier sind meine drei Lesetipps für ein Reboot deines Bewusstseins:

  • »Tochter des Regenwalds«: Die Autorin Nemonte Nenquimo ist als indigener Mensch mitten im Regenwald geboren. In diesem Buch beschreibt sie ihren Lebensweg. Wie sie als Teenager zur Mission der Weißen ging, in der Stadt landete und nach vielen, schmerzvollen Wegen zusammen mit anderen eine Widerstandorganisation gegen die Ölkonzerne gründete, die den Regenwald Stück für Stück abholzen. Mit ihrer schönen Sprache schaffte sie es, dass ich in ihre Welt eintauchen konnte. Dass ich mir vorstellen konnte, wie es wohl ist, tatsächlich im Einklang mit der Natur zu leben. Und auch zu erkennen, wie unglaublich weit wir hier im Westen mit unserer sogenannten Zivilisation davon entfernt sind.
  • »Dazu gehören«: Diese wunderschöne Buch von der Feministin bell hooks ist eine Sammlung von Essays. Dadurch wiederholen sich die Themen ein bisschen, aber das finde ich überhaupt nicht schlimm. Es gewinnt dadurch vielmehr eine Langsamkeit, die zum Inhalt passt. Der handelt nämlich davon, wie die Autorin wieder zurück nach Connecticut kommt, in ihre Heimat, auf’s Land, in die Berge, zu den Hill Billies. Sie beschreibt, wie wichtig es ist, sich selbst verorten zu können. Und wie wichtig die Verbindung zu einer Gegend, zu einem Stück Land(schaft) für ein gelungenes, zufriedenes Leben ist. Wie viel Kraft und Stärke es ihr verliehen hat. bell hooks geht damit zwar von einem ganz anderen Ort aus. Aber ich finde, die gefühlte Erkenntnis, die Verbundenheit zu einem Landstrich und dem Leben darauf, ähnelt doch dem, was Nenquito beschreibt. Auch sie hilft zu erkennen: Die Natur ist viel größer als der Mensch. Und ohne die Natur ist der Mensch nichts. Nicht nur, weil wir von den Erzeugnissen der Erde leben. Auch weil wir sie auf spiritueller Ebene brauchen, um ganz zu leben.
  • »Sand Talk«: Der Autor Tyson Yunkaporta gehört zum Volk der australischen Apalech und ist Professor für Indigenes Wissen. Er versucht mit diesem Buch auf sehr ungewöhnliche Weise das tiefe, komplexe und prozesshafte Wissen der Aborigines zu vermitteln. Ein Wissen, das aus einer symbiotischen Beziehung zum Land und zu den Ahnen besteht. Auf dem Nachdenken in Geschichten. Auf dem Verstehen von Mustern. Das flüchtig ist wie die Zeichnungen, die bei den Zwiegesprächen seines Volkes in den Sand gezeichnet werden. Ein Wissen, das durch die westliche Zivilisation nahezu zerstört wurde und das Yunkaporta in diesem Buch lebendig werden lassen möchte (was eine sehr herausfordernde Aufgabe ist, weil diese Kultur eigentlich nur mündlich Wissen überliefert – und natürlich von vollkommen anderen Sprachen).

Veranstaltungstipp zur Überwindung des Anthropozäns

Eine weitere praktische Übung, um die Blickrichtung zu wechseln und die Perspektive zu verändern, bieten drei Führungen (plus einem Schreibworkshop), den meine Freundin und Kollegin Judith Hermann im Oktober für euch in Lübeck anbietet: Sie streift mit euch durch die Stadt und möchte diese aus der Perspektive von Igel, Kröte und Hummel mit euch begutachten. Sie schreibt dazu:

Wenn wir unsere Städte planen und Häuser bauen, denken wir wenig über Tiere und Pflanzen nach, die die Orte, die wir bewohnen, zuvor genutzt haben. Wir denken daran, wie es für uns am besten ist. In diesem Projekt wollen wir die menschliche Perspektive erweitern, die Facettenaugen weit öffnen und mit goldenem Krötenblick schauen, wie die Stadt so sein kann, dass sich auch nicht-menschliche Wesen zuhause fühlen. Wird es in Zukunft Hummelampeln, Krötenbrücken oder eine Igelstadtautobahn geben? Wir wollen umdenken und erkunden, wie kann unsere menschliche Stadt an sich zu einem Ort werden, der auch den Bedürfnissen anderer Lebewesen entgegen kommt? Wie könnten wir unsere Gebäude, Wege und Plätze so gestalten, dass sie Lebensräume und Wege für die Tier- und Pflanzenwelt bieten? Wie sieht die dann Stadt aus? Wie fühlt sich die Stadt mit Straßennetz, Haltestellen, Kiosken für Hummeln, Kröten und Igeln an?

Die Termine sind:

  • 13.10.2024 Schreibworkshop, 11-16:00 Uhr
  • 12.10.2024 1. Rundgang, 11-16:00 Uhr
  • 26.10.2024 2. Rundgang, 11-16:00 Uhr
  • 27.10.2024 3. Rundgang, 11-16:00 Uhr
  • 22.11.-13.12.2024 — Ausstellung der Entwürfe und Skizzen.

Treffpunkt für die Rundgänge ist das Café im Schulgarten Lübeck, An der Falkenwiese/Wakenitzufer. Schreibworkshop und Ausstellung: Kulturfunke-Quartier, Krähenstraße 32-34, 23552 Lübeck. Weitere Infos findest du hier: https://www.metagarten.de/

(Bildquelle: metagarten)