Wer vorwärts gehen will, muss Stand- und Spielbein abwechseln. Was das mit der Krisensicherheit unserer Gesellschaft zu tun hat, darüber haben wir mit dem Regional-Manager und Spiele-Entwickler Georg Pohl gesprochen. Ein Interview.
Georg Pohl (www.georgpohl.de) hat so einige Geschichten zu erzählen: Zum Beispiel, wie er damals nach der Wende in Leipzig im Gutshof Stötteritz ein Zentrum zur Wiedereingliederung psychosozial geschädigter Menschen (www.wiedereingliederung-leipzig.de) aufgebaut hat. Oder warum er den Netzwerk Agens e. V. mit gegründet hat, mit dem er und ambitionierte MitstreiterInnen seit 1993 innovative und nachhaltige Konzepte für eine lebenswerte Stadt erforschen und erproben (www.netzwerk-agens.de).
Heute aber haben wir uns mit dem Regionalmanager und Spieleentwickler über die Bedeutung von Spiel- und Standbeinen in unserem Leben, unseren Organisationen und unserer Gesellschaft unterhalten. Und was die Macht des Spielens und Erzählens mit unserer Krisensicherheit zu tun hat.
Ihr erstes Spiel heißt »stadtspieler« – wie ist es dazu gekommen?
Genau genommen ist es die vierte Version eines Spielprinzips. Es begann 1999 mit einer Zufallsidee. Netzwerk-Agens engagierte sich für die Brachflächenentwicklung der alten Leipziger Messe. Es gab einen städtischen Bebauungsplan für die 60 Hektar und auch einen interessierten Wohninvestor. Doch da die Stadt keine Aussagen machte für das benachbarte Freizeitareal, sprang der wieder ab.
Damals ist mir klar geworden, wie wichtig es ist, die Verständigung zwischen verschiedenen Interessenten herzustellen. Um wirklich zu kooperieren und miteinander etwas zu bewegen, muss man mehr voneinander kennen, als die reinen Fakten. Man muss auch etwas über die Motivation des anderen wissen und über dessen Bedeutung von Sachverhalten. So kam es, dass ich mit einem Team von drei MitstreiterInnen vor 14 Jahren ein erstes Brettspiel entwickelt habe: Das Leipziger Messespiel. Es folgten dann »XAGA-Das Stadtspiel« und »XAGA-Das Dorfspiel« sowie 2005 zum Stadtjubiläum »Alles Dresden«. »stadtspieler« (www.stadtspieler.com) startetet 2009.
Und worum geht es in dem Spiel?
Das Spiel ist Werkstatt-Tool. Es fördert Kreativität und hilft die Balance herzustellen zwischen verschiedenen Themen. Es zeigt Strukturen auf dem Brett und ermöglicht die Erprobung von Szenarien. Aber es zeigt vor allem eigene Motive. Man traut sich Neues in den Ring zu werfen. Das Spiel hilft, dass aus Schnittpunkten echte Spielräume werden.
Mit stadtspieler habe schon bei ganz unterschiedliche Aufgabenstellungen einsetzen können: vom Bewerbungstrainings bei BMW und Call-Center-Seminaren über Begegnungen bei der Bundesgartenschau oder der Katholischen Landjugendbewegung bis hin zu Workshops mit ganz kleinen Nachbarschaftsprojekten und Schulen. Kürzlich fand ein wunderbarer Workshop im Pferdemarktquartier in Bützow statt. In Hamburg gab es 2011 eine große Kampagne. In Berlin erarbeitet gerade das Programm „Kinderfreundliche Kommune“ eine eigene Version.
Über die Jahre hat sich gezeigt, wie anspruchsvoll es ist, ein wirklich gutes Spiel herzustellen. Vor allem bei einem Spiel wie stadtspieler, das mehr nur Spaß und Wissen vermitteln soll. Es soll die Menschen auch noch zum Handeln anstiften. Dabei muss man ganz eigene Schwerpunkte setzen und die Dokumentation sorgfältig planen. Denn bei so einem Spiel ist jeder Schritt auch eine echte Stufe, eine eigene Aufgabe und Entwicklung.
Ihr neuestes Spiel heißt Storybox. Nun sind das Geschichten erzählen und das Spielen ganz wichtige, menschliche Kulturtechniken, oder?
Das stimmt. Mir gefällt dabei das Bild vom Stand- und Spielbein besonders gut: Wenn man läuft ist das eine Bein das Standbein und das andere das Spielbein. Und das wechselt sich dann immer ab. In unserer Gesellschaft vernachlässigen wir aber das Spielbein. Das führt dazu, dass viele zwei Standbeine haben. Aber so kommt man nicht mehr vorwärts, man bleibt stehen.
Außerdem merken wir heute, dass in unserer Gesellschaft – denken wir an Umwelt oder Bildung – der Boden langsam wackelig wird, schwankt und teilweise sogar einstürzt. Dann versteht man, dass die Sicherheit und die Balance in der Bewegung, im Wechsel zwischen Stand- und Spielbein liegt. Man nennt das Spielbein auch Kreativität und die muss man üben. Das heißt ja nicht, dass man kein Standbein mehr hat, das Identität vermittelt. Diese Identität muss man aber immer wieder neu finden, jeden Tag.
Haben auch für Unternehmen, Organisationen und Gesellschaften Stand- und Spielbeine?
Auf jeden Fall. In einer Ausschreibung fragt das Bundesbauministerium: Wie können Städte vorbereitet werden auf Krisen? Krisenvorbereitung bedeutet dabei nicht, dass man sich so-und-so-viele Packungen Mehl in den Keller legt. Das Hamburger Abendblatt hat neulich in einem ganzseitigen Artikel beschrieben, wie viele Vorräte eine Familie eine Woche lang braucht (lacht).
Nein, Krisenvorbereitung bedeutet nicht, dass wir die richtige Versicherung abschließen. Krisensicherheit liegt – wie Götz Werner (www.unternimm-die-zukunft.de) richtig bemerkt hat – darin, was wir heute für einander tun. Also etwa die Antwort auf die Frage: Wir sichern wir uns heute gegenseitig unsere Daseinsvorsorge und unsere Lebensqualität? Der Trend zur Regionalisierung, den man derzeit überall beobachten kann, ist beispielsweise ein Versuch, hier Flexibilität zu erreichen.
Es geht in jedem Fall darum, wie wir ein Ziel erreichen können. Ob das ein Tag ist oder die Herstellung eines Produktes ist gleich. Es kommt darauf an in einer vorgegebenen Struktur verschiedene Wege gehen zu können, die jeweils andere Kombinationen ermöglichen – also spielerischer mit Gegebenheiten umzugehen.
Inwiefern helfen uns Spiele dabei, mit Gegebenheiten zu spielen?
Nun, ein Brettspiel bietet die Fläche für Metaphern. Anders als beispielsweise bei einem Rollenspiel hat man mehr Abstand von der persönlichen Ebene. Man kann quasi von außen – wie bei einem Puppenspiel – eine Situation oder Entwicklung im Detail und zugleich in der Struktur sehen und bewerten.
Dieses »zugleich« ist unglaublich wichtig und auch heilsam. Auf diese Weise kann man Dinge zeigen und sagen, die man sonst nicht zeigen und sagen kann. Man sieht die Essenz und die Strukturen. Spiele helfen, den Schlüssel zu finden für eine Türe oder ein Problem. Man benötigt als Bausteine nicht alle Details. Das Ergebnis liegt nicht in der Menge, sondern in der Relevanz.
Und ist das Standbein nicht das Synonym für die Geschichten, die unsere Identität ausmachen?
Von der Herkunft schon, aber nicht für die Zukunft. Wir sehen ja mit den Augen nach vorne, weil dort die Fragen und Unsicherheiten liegen. Aber in Wirklichkeit gibt auch die Zukunft Kraft. Weil wir eben nicht an einem Endpunkt sind, sondern immer in einem Prozess zwischen dem was war und dem was noch nicht eingetreten ist, aber es ist veranlagt.
Man kann sagen, die Materialien sind ein Standbein. Aber diese müssen immer wieder neu kombiniert werden. Dabei geht es um Ressourcen und Potentiale. Für eine nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung ist es ganz wichtig, dass man sieht, welche Ressourcen vorhanden sind. Und wie diese passen.
Ich setze gerne das Bild eines Blumenstraußes ein: Die verschiedenen Blumen kann man zu verschiedenen Gebinden zusammenstellen. Sicher gibt es mehr Kombinationen, die nicht schön aussehen, nicht passen, als andersherum. Aber man muss es ausprobieren. Es kommt darauf an, dass die Dinge zusammen einen Qualitätswert ergeben.
Ein Beispiel: Ein Stadtteil, oder ein Dorf kann eine ganz hervorragende Bildungseinrichtung haben – aber wenn es zum Beispiel keine Einkaufsmöglichkeit, wenig Arbeitsplätze und keine Gaststätte gibt, hebt dies die Lebensqualität insgesamt nicht. Das heißt die Frage ist nicht (nur), welche Qualität die einzelne Einrichtung hat, sondern wie das Zusammenspiel aller Ressourcen und Potentiale aussieht.
So kann es in einem Stadtteil ganz viele soziale Probleme geben – aber auch ganz viele Potentiale und Ressourcen, die man erst sichtbar machen muss: Etwa kulturelle Vielfalt und vieles mehr. Wenn heute Menschen aus aller Welt nach Hamburg ziehen, werden sie nicht begrüßt und gefragt, welche Erfahrungen und Wünsche sie mitbringen, und wie sie zu einer sich ständig wandelnden Stadtgesellschaft beitragen können und wollen.
Dabei sollte es uns darum gehen diese Ideen, Lebenserfahrungen und Wünsche zu erkennen und zu nutzen. Die Frage ist, wie man organisatorisch an diese Menschen herankommt. Und auch, wie der erste Anstoß, die Einladung zu einem solchen Dialog erfolgt. Hierbei hilft zum Beispiel mein neuestes Spiel, das ich zusammen mit der Geschichtenerzählerin Micaela Sauber (http://www.micaela-sauber.de) entwickelt habe: Die Storybox (www.story-box.de).
Was ist die Storybox?
Die Storybox ist einerseits ein Werkzeug, eine Kommunikationshilfe. Andererseits ist sie ein Zauberkasten. Als Kommunikationshilfe stellt sie zum Beispiel Fragen für einen echten Dialog bereit: Jeder Gesprächspartner bekommt dabei den gleichen Raum für Fragen und Antworten sowie deren Wertschätzung.
Es gibt ja heute überall viel zu viele Antworten auf nicht gestellte Fragen: Im Supermarkt finde ich unglaublich viele Antworten – und oft gibt es dazu gar keine (Nach)Frage. Die richtigen Fragen sind aber der Schlüssel zur Zukunft unserer Gesellschaft. Es geht um die Verständigung, das Anerkennen und Handhaben der Asymetrie, die zwangsläufig zwischen den Menschen herrscht.
Als Zauberkasten enthält sie eine Begegnung, ein relevantes Ereignis: Nach jedem »Spiel« legt man einen Talisman, ein Andenken hinein. Damit wird die Box zur Dokumentation eines Augenblicks, den man sonst vielleicht vergessen würde. Damit fördert sie auch das Bewusstsein, den Moment wertzuschätzen und nachhaltig zu machen.
Für wen eignet sich die Storybox?
Man kann sie zu zweit nutzen: Mit neuen Freunden oder auch mit alten. Man kann sie mit seinem Lebenspartner spielen oder mit seinen Eltern. Die Storybox eignet sich aber auch für die Therapiearbeit, bei Unternehmensumstrukturierungen oder Veranstaltungen.
Außerdem kann man die Storybox als Dokumentationskasten für Seminare nutzen. Dann können die Teilnehmer pro Seminar Dinge, Bilder und Notizen hineinlegen. Und schließlich kann man die Storybox für Reisen und die eigene Entwicklungsarbeit nutzen. Dann ist die Box eine andere Art von Tagebuch.
Wie bist Du auf die Idee zur Storybox gekommen?
Die Storybox hat eine andere Logik als die Spiele, die ich bislang gemacht habe. Wenn ich meine Projekte anschaue, dann habe ich immer die Vielfalt als erstes gesehen. Ob das das Buch »Klangbild Gemeinwesen« ist, die Stadtteiltagungen oder bei »stadtspieler«. Danach habe ich versucht, diese Vielfalt auf einer Schnittstelle zusammen zu führen in einen Spielraum. Die Storybox steht für Grundkonstellation in diesem Spielraum, sie zeigt die Art der Schnittstelle. Sie ist für eine gleichberechtigte Zweiersituationen gemacht, bei der das Sichtbare und Unsichtbare, Zukunft und Vergangenheit zugleich präsent sind.
Vielen Dank für das Gespräch!
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