Was kann ich angesichts des schier überwältigend großen Ausmaßes an Missständen nur tun? Und wie gehe ich mit Täter*innen um? Der Zen-Meister und Vorreiter des engagierten Buddhismus Bernie Glassman hatte darauf Antworten – und gründete die Zen-Peacemaker.
Wenn es nach Bernie Glassman geht, sollten wir nicht fragen, wie wir die Krisen der Welt lösen können. Wir sollten uns fragen, wie wir besser damit umgehen können. Der Zen-Meister, Social-Entrepreneur und engagierte Buddhist ist im Laufe seines Lebens auf drei wesentliche Richtlinien gekommen, die dabei helfen sollen:
- Das Nichtwissen. Oder besser gesagt, die größtmögliche Offenheit. »Man sollte einer Situation – auch einer Krise – mit größtmöglicher Offenheit begegnen, anstatt zu überlegen, wie man sie ordnen, vermeiden oder überwinden kann«, sagte Bernie Glassman in einem Interview mit Gert Scobel. Denn nur dann ist man bereit für den zweiten Punkt:
- Die Situation bezeugen. Das bedeutet, dass man sich ganz in eine Erfahrung hineinbegibt – egal, worum es geht. Normalerweise versuchen wir ja, positive Situationen zu wiederholen und negative zu vermeiden. Das funktioniert jedoch nicht, wenn wir davon ausgehen, dass alles mit allem verbunden ist (wie es der Buddhismus tut). Deshalb sollen wir laut Bernie Glassman solche Situationen nicht vermeiden, sondern aufmerksam, offen sein. Wir sollen genau beobachten, welche Gefühle und Emotionen in uns auftauchen. Nur so können wir uns selbst in Verbindung mit der Welt erleben. Die innere Welt wird damit zur Äußeren – und umgekehrt. Aus dieser Praxis entstehen laut Bernie Glassman automatisch hilfreiche und heilsame Handlungen.
- Liebevoll Handeln. Dies entsteht quasi von alleine, wenn ich die ersten beiden Schritte durchführen kann. Dann handle ich aus dem gegenwärtigen Moment, indem ich alle Bedürfnisse wahrnehmen – meine und die anderer. Die entscheidende Frage, die dabei auftaucht, ist »Was ist das Beste, was ich jetzt gerade tun kann (mit meinen Mitteln)?«.

Bernie Glassman – vom Zen-Meister zum Social-Entrepreneur
Bernie Glassman hat selbst einen langen Weg der spirituellen Praxis hinter sich, als er an dieser Stelle der Einsicht angelangt ist. Aufgewachsen als Sohn jüdischer Einwanderer in den USA wird er zunächst Luft- und Raumfahrtingenieur, entdeckt dann aber den Zen-Buddhismus. 1967 begann Bernie Glassman sein Zen-Studium bei Hakuyu Taizan Maezumi Roshi, dem Gründer des Zen-Zentrums von Los Angeles. 1976 wurde er Zen-Lehrer und gründete 1980 seine eigene Zen-Gemeinschaft in der Bronx, New York.
Hier eröffnete Glassman später die Greyston Bakery (shop.greyston.org). Zu Beginn sollte sie vor allem Arbeitsstellen für seine Zen-Schülern schaffen, sodass diese dort den Lebensunterhalt für die Gemeinschaft erwirtschaften konnten. Er hatte zwar keinerlei Erfahrungen mit professionellem Backen, wollte aber die Zen-Praxis auch in den Alltag der Arbeit einbinden.
Einige Jahre später stellten Bernie Glassman und sein Team fest, dass die Gemeinde Yonkers (drei Meilen nördlich) dringend Arbeitsplätze brauchte. Die Greyston Bakery zog um und stellte nach dem Prinzip »Open Hiring« schließlich jede und jeden ein, der oder die vorbei kam und Arbeit suchte. Lebensläufe, Qualifikationschecks oder Einstellungsgespräche gibt es hier nicht. Das Motto lautet: »Wir stellen nicht Leute ein, um Brownies zu backen. Wir backen Brownies, um Leute einzustellen«.
Arbeit fanden hier damit vor allem Menschen, die sonst an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt werden: Obdachlose, Drogenkranke, allein erziehende Mütter. Die Gewinne der Greytone Bakery gehen vor allem an die Schwester-Organisation Greytone Foundation, die Wohnraum für Obdachlose, Ausbildung für Arbeitslose, Kindergärten und anderes finanziert.

Vom Social-Entrepreneur zum engagierten Buddhismus
Das Beispiel der Greystone Bakery zeigt, was geschehen kann, wenn sich Menschen mit größtmöglichem Nichtwissen in eine Situation begeben und sich wirklich mit anderen verbinden. Anstatt sich von den Obdachlosen, Drogenabhängigen, Arbeitslosen und Armen abzuwenden und den Kontakt zu vermeiden, suchte Bernie Glassman nach einem Weg, wie er ihnen helfen konnte. Er sah, was ihn mit diesen Menschen verband, weil er sich ihnen möglichst vorurteilsfrei zuwandte.
Nur so können wir als Menschen Mitgefühl und Weisheit entwickeln, meint Bernie Glassman – und das seien die beiden Grundpfeiler des Zen. Um das zu lernen, begeben wir uns laut Glassman am besten an die Ränder der Gesellschaft. Vor allem an die unteren. Bernard Glassman hat sich zu den Arbeitslosen, den Drogenabhängigen, den allein erziehenden Müttern, den an den Rand gedrängten begeben und mit ihnen in der Greystone Bakery eine Arbeitsstätte geschaffen. Damit lässt sich Bernie Glassmans Art, Zen zu praktizieren, sicherlich im Bereich des engagierten Buddhismus verorten.
Dieser Begriff wurde von dem vietnamesischen Zen-Mönch Thích Nhất Hạnh geprägt und wird seit den Siebzigerjahren von asiatischen und westlichen Buddhist*innen gebraucht, um »die Verbindung von meditativer Einsicht und holistischer Weltsicht mit aktivem ökologischem, humanistischem und sozialem Engagement zum Schutz der Mitwelt und der Mitwesen, für die Beseitigung ökonomischer, sozialer, gender und humanistischer Benachteiligung und des damit verbundenen Leidens zum Ausdruck zu bringen«, wie Wikipedia schreibt. Dazu passt, dass Bernie Glassmann 1995 zudem den Zen Peacemaker Orden (zenpeacemakers.org) gründete, um die spirituelle Praxis des Zen mit mitfühlenden Aktionen für Frieden und Gerechtigkeit zu verbinden.
Bernie Glassman und die Street-Retreats
Bernie Glassman hat aber nicht nur versucht, Armen und Außenseiter*innen zu helfen. Er hat sich selbst in ihre Lage gebracht, um zu lernen. Dazu hat er sogenannte Street-Retreats gemacht: er hat sich mit nichts auf die Straße begeben und tagelang dort zu überleben versucht. Später führte er die Street-Retreats auch mit Gruppen durch. Und noch heute werden sie von Zen Peacemaker*innen in verschiedenen Städten angeboten und als eine Art der Zen-Praxis verstanden.
Denn wer schon mal am eigenen Leib erfahren hat, wie es ist, ungeschützt auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, werde nie wieder achtlos an einem Obdachlosen vorbei gehen, meint Bernard Glassman. Man könne dann nicht mehr das Trennende sehen. Man wüsste um die Gemeinsamkeiten. Und man spüre ein Gefühl von Verantwortung für andere sowie die Bereitschaft, für Humanität und Gerechtigkeit einzutreten. So beschreibt es jedenfalls die Journalistin Christa Spannbauer in einem sehr inspirierenden Buch, das sie mit Bernie Glassman und Konstantin Wecker gemacht hat. Beide kommen darin zu Wort und führen auch Dialoge mit einander. Sehr gut passt dazu der Buchtitel: »Es geht um’s tun und nicht um’s Siegen«.

Als Zen-Peacemaker in Auschwitz
Aber kommen wir noch mal zurück zum Anfang: Wie gehen wir denn nun um, mit den Krisen – den ganzen unangenehmen, beängstigenden, deprimierenden Zuständen in unserer Welt? »Manchmal müssen wir, um zu lernen, vollkommen in eine Situation eintauchen. Dann ergeben sich ganz automatisch Handlungen. Und das sind die heilenden, hilfreichen Handlungen«, erklärt Bernard Glassman in dem bereits erwähnten Interview mit Gert Scobel.
Ein extremes Beispiel dafür war sicherlich Glassmans Reaktion auf seinen Besuch im Konzentrationslager Auschwitz. Im Interview mit Gert Scobel erzählt er, dass er sofort gewusst habe, dass er längere Zeit dort bleiben müsse – gerade um dieser schrecklichen Erfahrung nicht auszuweichen, sondern sich ihr zu stellen (seine Eltern hatten ihre Familien in Konzentrationslagern verloren). Später zeigte sich, dass ein Besuch allein nicht ausreichte. Er musste wieder kommen. Und wieder. Irgendwann organisierte er Retreats in Auschwitz. Mit Menschen unterschiedlichster Konfessionen. Mit Juden. Mit Palästinensern. Mit Atheisten.
Orte als Lehrmeister*innen betrachten
Was er tut, wenn dort negative Gedanken und Gefühle hochkommen, beschrieb Bernie Glassman wie folgt: »Ich spüre, welche Empfindungen aufsteigen – und darüber unterhalten wir uns. Ich versuche nicht, negative Emotionen wegzustoßen, sondern sie wie Götter zu behandeln«. Auf diese Weise könne man sich mit dem Leid der Opfer verbinden. Man könne die Trauer teilen, dass Menschen anderen Menschen so unendlich viel Leid antun. Man könne sich aber nach und nach auch mit den Tätern verbinden. Entdecken, dass auch in einem Selbst Muster an Gedanken und Gefühlen stecken, die denen der Täter gleichen. Die Zen-Peacemaker-Roshi Barbara Salaam Wegmüller aus Bern beschreibt es in einem Interview so:
Sie lernte »… im Laufe der Jahre immer subtiler auch meinen eigenen Täterteil zu sehen. Auch wenn ich nur die Blattläuse auf meinen Rosen eliminiere, ist das ja schon eine Form von Selektion. Dieses immer subtiler zu sehen, wie wir trennen … und dann Entscheidungen fällen – im Großen und im Kleineren. Und dies immer klarer IN SICH zu sehen, auch in Begegnungen mit Menschen, wo ich dann lerne – das habe ich vor allem in den Straßen-Retreats gelernt – was ich mir so denke, z.B. bevor ich jemanden anbettle. Das ist dann eben auch in Auschwitz so, wenn wir den verschiedenen Stimmen zuhören, den Kindern und Enkelkindern von Tätern, den Kindern und Enkelkindern von Menschen, die da in einem Genozid gestorben sind. Da kommen wir diesem generellen Leiden viel näher und das macht uns auch mitfühlender für das Ganze.« (Quelle).
Aktivist oder erleuchtet?
Soll das etwa bedeuten, dass man nur meditiert und reflektiert und dann alle Schandtaten »entschuldigt«? Natürlich nicht. Zum Auschwitz Retreat im November wollen die Zen-Peacemaker zum Beispiel auch dieses Jahr wieder Israelis und Palästinenser*innen einladen. Das wird schwierig. Und es wird Kritik von beiden Seiten geben. Schnell ist das Urteil des Antisemitismus bei der Hand. Doch schweigen, das geht nicht. Die Zen-Peacemaker wollen nicht nur das bearbeiten, was war. Sie wollen auch das in den Blick nehmen, was jetzt gerade ist und dem gleichen Muster folgt.
»Ich kenne das schon seit Jahren, dass, wenn man danach fragt, wie es den Palästinensern geht … allein schon, wenn man daran denkt, was hinter den Mauern dort passiert, man sehr oft schon als Antwort bekommt, das ist antisemitisch. Das habe ich selbst immer wieder erlebt. Andererseits ist es genau das, was ich in Auschwitz gelernt habe, dass gerade die schweigende Mehrheit ein großer Teil des Verbrechens, der Taten, war. Und da habe ich mir selbst versprochen, trotz der Anschuldigungen davon zu sprechen. Natürlich ist es sehr schwierig«, so Barbara Salaam Wegmüller Roshi in dem bereits genannten Interview (Quelle).
Wer die Welt so betrachtet, für den gibt es keine Trennung zwischen innerer und äußerer Welt. »Mein inneres Leben ist das ganze Universum. Also ist mein äußeres Leben das ganze Universum«, so Bernie Glassman im Gespräch mit Gert Scobel. Die Welt zu verändern, kann daher nur einhergehen mit einer inneren Veränderung. Und umgekehrt. Wie das gelingt? Darauf weiß ich leider auch keine abschließende Antwort. Aber ich nehme die drei Richtlinien von Bernie Glassman mit auf den Weg, wenn ich demnächst auf Menschen treffe, die so ganz anders denken und handeln wie ich …
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