Der Wahrheit eine Gasse!

Ein Spruch, den man auf den ersten Blick durchaus unterschreiben könnte. Wer sollte schon etwas dagegen haben, wenn sich die Wahrheit gegen alle Widerstände und im wuchernden Gestrüpp der Meinungen, Irrungen und Wirrungen durchsetzt? Niemand, oder?

Leider ist das mit der Wahrheit aber so eine Sache, da jeder Anspruch auf sie erhebt und nach eigenem Gutdünken selektiert. Während die großen „Leitmedien“ mehr und mehr mit Skepsis betrachtet werden, versuchen wahrheitsbewegte Internet-Seiten die Lücke zu schließen. Ein Glück für die Meinungsvielfalt – eigentlich -, denn selten nur wird hier eben jene Ausgewogenheit geduldet, deren Fehlen man bei den Großen so stark anprangert. Dabei sollte es vielleicht weniger um Wahrheit als um Wahrhaftigkeit gehen… Diese schließt neben dem eigenen Anspruch auch das Mitgefühl gegenüber denjenigen mit ein, die noch an alten Konzepten, Lügen und Phrasen festhalten.

Das Internet hat sich nicht nur wie Phönix aus der Asche erhoben und nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000 als soziales Netzwerk mit Web 2.0-Faktor trotzig neu erfunden. Es ist auch zu einer Gasse für die so genannte „Wahrheitsbewegung“ geworden. Auf Millionen von Webseiten, in Blogs und Diskussionsforen gehen Menschen mit der Welt ins Gericht, suchen und finden sich, blasen zum Sturm gegen die Kartenhäuser der Lügen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft… und überlassen ganz nebenbei den Verursachern das Feld im realen Leben. Oder, um es mit den Worten des französischen Philosophen Voiltair (21.11.1694 – 30.05.1778) zu sagen: „Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, solltest du auch sagen.“

Wenn Wahrheit wirklich Wahrheit wär

Nehmen wir allein mal das Zitat aus der Überschrift dieses Beitrages, das sich im ersten Moment wie ein Plädoyer für eine gerechte Wahrhaftigkeit liest. Dabei ist „Der Wahrheit eine Gasse!“ auch der Titel eines Buches, in dem der deutsche Politiker Franz Joseph Hermann Michael Maria von Papen (kurz Franz von Papen, Reichskanzler 1932 und Vizekanzler im ersten Kabinett Hitler – der Mann also, der seinerzeit Hitler mit dem Ermächtigungsgesetz im Gepäck zum Reichskanzler berief) seine Memoiren festhielt.

Angelehnt an das Lied „Der Freiheit eine Gasse“ der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts wollte von Papen mit diesem Werk ein Vermächtnis hinterlassen und beschrieb hier lang und breit sein Leben, seine Sicht der Dinge, seine Wahrheit. Der fast zickig klingende Ausspruch signalisiert den Geist eines Mannes der die Wahrheit dahin befahl, wo er meinte das sie hin gehört. Kritiker jedoch sehen es genau anders herum: „Häufig verwiesen wurde auf Papens Neigung, Fakten, die geeignet gewesen wären, seine Person in ein negatives Licht zu rücken, entweder stillschweigend wegzulassen oder durch lückenhafte, dekontextualisierende oder schlicht unzutreffende Angaben zu beschönigen.“ (Wikipedia) Die Wahrheit, die der Autor der Welt hinterlassen will, ist also nur ein Zerrbild der „Wahrheit“ (oder wie die Welt sie sieht).

Ganz nebenbei, Wahrheit ist natürlich KEIN rein politisches Phänomen. Sie ist weder links noch rechts, weder arm noch reich oder ein Privileg bestimmter Gruppen. Sie ist ein gesellschaftliches Agreement, eine Vereinbarung unter Gleichdenkenden – und sie unterliegt stets der Hoheit derer, die sie definieren, festlegen – und eben auch inszenieren, um damit Politik und Geschäfte zu machen. Es geht also nur darum, wer Wahrheit durchsetzen kann.

Ein weiteres, (fast) unpolitisches Beispiel für das Wesen der Wahrheit findet sich in einer alten Geschichte wieder, in der „Geschichte von den blinden Männern und dem Elefant“. In dieser versuchen mehrere Blinde durch Ertasten und Befühlen zu ergründen, wie wohl ein Elefanten aussehen möge. Das Problem ist, dass jeder von ihnen ein anderes Körperteil desTieres untersucht – einer den Schwanz, einer die Stoßzähne, die großen Ohren, den Rüssel… – und natürlich zu einem gänzlich anderem Ergebnis kommt. Dabei gilt für die Blinden (die Suchenden), die den Elefanten untersuchen wohl das Gleiche wie für uns, die wir versuchen, die „Wahrheit“ oder „Realität“ zu ergründen: Zwar mag der ganze Elefant (den wir nie komplett erfassen) die Wahrheit sein, aber niemals ist es nur der Rüssel in der Hand.

Die Wahrheit bewegen

Der Ausschnitt der Realität, den wir wahrnehmen, bleibt immer nur ein Ausschnitt. In der Regel suchen sich Menschen Gleichgesinnte, um das einmal gemachte Bild zu stützen und zu bestätigen. Andere Dinge blenden wir aus – und zwar alle, ganz unbewusst (selektive Wahrnehmung nennt sich das, was damit zu tun hat, dass wir unser Leben überhaupt nicht bewältigen könnten, müssten wir täglich, stündlich, in jeder Minute alle auf uns einstürmenden Informationen bewusst verarbeiten). Wie weit das gehen kann zeigt dieses Video, bei dem das Verhalten des Gruppenzwangs getestet wurde:

[flash]http://de.youtube.com/watch?v=f6J8TtTt-LU[/flash]

Das Resultat: Selbst wenn wir der „Wahrheit“ einer Gruppe nicht glauben, schließen wir uns ihr an – um dazu zu gehören (ein menschlicher „Instinkt“, der uns das Leben in einer höchst komplexen, unübersichtlichen Welt überhaupt erst ermöglicht – und einer, der von PR und Werbung schon lange weidlich genutzt wird). Die Wahrheit ist also nichts Statisches und bewegt sich sehr wohl, und zwar hin zur Akzeptanz innerhalb einer Gemeinschaft, die sich über ihr Weltbild definiert.

Dazu kommt, dass in einer Situation die obendrein existenziellen Charakter hat, ganze Gesellschaften in der Lage sind, Teile der Wahrnehmung auszublenden. Ein schlimmes Beispiel hierfür ist das Verhalten einer Bevölkerung innerhalb totalitärer Regime oder totalitärer Sequenzen der Geschichte. Da wird bereitwillig eine Situation akzeptiert (vielleicht sogar bis aufs Blut verteidigt), die offensichtlich dem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden des Einzelnen widerspricht – und mit einem Mal wird Ungerechtigkeit, Unterdrückung und sogar Völkermord für die Sache emotional legitimiert. Auch Wissenschaftler, die sich darüber Gedanken machen, warum wir Menschen beispielsweise den Klimawandel – vor dem wir eigentlich so schrecklich Angst haben müssten, dass wir sofort etwas unternehmen – mit einer so relativen Tatenlosigkeit entgegen sehen, begründen dieses Verhalten durch das gleiche Phänomen.

Was ist also diese Wahrheit, wo hat sie ihren Fixpunkt, wo ihren Anker?

Es gibt ebenso wenig hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol. Sigmund Freud, österr. Neurologe und Begründer der Psychoanalyse (06.05.1856 – 23.11.1939)

Wenn ich mich im Internet durch die wachsende Zahl an Webseiten bewege, die sich der investigativen Aufdeckung aller möglichen Lügen und dem Angriff gegen ihre Verursacher verschrieben haben, so fällt mir häufig auf, dass der von den Betreibern und Diskutanten geforderte Zustand der Wahrhaftigkeit zwar ehern erscheint, jedoch zwei Dinge dieses edle Ansinnen wieder unglaubwürdig machen:

1) Die Vereinnahmung der Wahrheit

Es ist hoch zu schätzen, wenn ein Mensch den Mut aufbringt und seine Bequemlichkeit überwindet, um der Wahrheit nachzugehen. Den Mut, unter Umständen eine Gefahr für die eigene Person in Kauf zu nehmen. Die Überwindung der Bequemlichkeit, da es hinreichend Ablenkung und „Feel-Good-Programme“ gibt, mit denen sich andere in sich selbst zurückziehen und vor der gesellschaftlichen Verantwortung flüchten – zumal, wenn sie in der Wohlstandsgesellschaft leben und persönlich noch keine große Not empfinden.

Warum aber führt dieses gesellschaftliche Engagement (das ist es doch, oder?) so häufig dazu, dass die jeweilige Gruppe, die sich einem speziellen Bilder der Wahrheit verpfichtet fühlt, diese Wahrheit genauso vereinnahmt, wie es diejenigen tun, die sie so verabscheuen? Wenn wir davon ausgehen, dass eben jene Politiker und Wirtschaftsvertreter es genauso machen? Auch sie haben ein Bild von der Wahrheit – und sie sondern alles aus, jedes Argument und jeden Fingerzeig aus der Gesellschaft, der diese Wahrheit gefährdet. Sie sind sogar bereit, ihre Vorstellungen mit aller Macht, mit Militär und gelenkten Krisen zu verteidigen und sie verabscheuen und bekämpfen jeden, der ihnen widerspricht.

Sie schaffen ein Wahrheitsgebäude, das wiederum von den Wahrheitssuchenden (zurecht) angezweifelt und angegriffen wird. Ist es aber nicht genau dieses Verhalten, dass sie so gefährlich macht? Ist es nicht genau diese Intoleranz, in Verbindung mit Macht, Moneten und Militär, die unsere Welt so gefährlich macht? Und sollten nicht diejenigen die dies verurteilen sich bemühen eben anders zu sein? Wer die Wahrheit für sich beansprucht, läuft Gefahr einen Keil zu treiben.

Wer die Wahrheit hören will, den sollte man vorher fragen, ob er sie ertragen kann. Ernst R. Hauschka (deutscher Aphoristiker)

2) Der fehlende nächste Schritt

Das Internet hat in den letzten Jahren viel bewegt. Besonders wenn es darum geht, neben der offiziellen Version der Wahrheit noch andere Sichtweisen zu ermöglichen. Endlich ist es möglich, seine Meinung zu sagen und nicht nur Empfänger zu sein. Die Arbeit investigativer Journalisten und Autoren, ihre Blog-Einträge, Video-Dokumentationen bei You Tube und Co. hilft uns, hinter den Vorhang zu schauen, Sachverhalte miteinander zu verbinden und grundsätzlich kritischer zu werden. Sie bieten uns neue Perspektiven und zeigen uns die Verfehlungen der Mächtigen.

Mit Inbrunst kämpfen etliche „Wahrheitsbewegte“ dafür, den anderen (oft sogar als feige, faul oder kriecherisch gescholtenen) Mitmenschen die Wahrheit zu verkünden. Doch – einmal angenommen, sie hätten Erfolg, und der Menschheit würden „die Augen geöffnet: Was wäre dann? Was wäre der nächste Schritt? Was wäre das Ziel?Natürlich geht es um Aufklärung, das Ideal des modernen Bildungsbürgers. Es geht darum zu zeigen, dass etwas nicht stimmt mit unserer Welt. Es geht darum, auf Ungerechtigkeiten, Manipulationen und verbrecherische Umtriebe in unserer Gesellschaft hinzuweisen. Doch Augenblick mal… wer ist denn diese Gesellschaft? Das sind doch wir? Millionen von Menschen, ob politisch oder wirtschaftlich motiviert, stützen das System, indem sie als kleine Rädchen der großen Maschine funktionieren. Sie leisten täglich ihre Arbeit, um das System am Laufen zu halten. Sie verdienen ihr Geld, geben es aus, konsumieren und drehen – vielleicht unwillig, aber doch – am großen Rad.

Aber wer weiß, wie lange noch…

Die Strafe des Lügners ist nicht, dass ihm niemand mehr glaubt, sondern dass er selbst niemandem mehr glauben kann. George Bernard Shaw, irischer Dramatiker, Schriftsteller und Nobelpreisträger (26.07.1856 – 02.11.1950)

Eine Gefahr tut sich auf. Eine Gefahr, bei der es nur augenscheinlich um die Wahrheit selbst geht. Mal abgesehen, dass sich die Gelehrten immer noch streiten, was denn tatsächlich die Realität ist und welchen Teil wir davon mit unseren Sinnen überhaupt wahrnehmen können. So ist es doch viel entscheidender, was wir mit der (unserer) Wahrheit anfangen? Was macht sie aus uns? Spaltet sie und vertieft die ohnehin schon vorhandenen (ideologischen oder religiöse) Gräben? So wie es im Moment zu beobachten ist, bewegen wir uns auf eine gesellschaftliche Misere zu. Einen Kampf der Kulturen, um Ideologien, um religiöse Vorstellungen und um die Wahrheit selbst.

Die Welt ist im Wandel und verändert sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Längst überwunden geglaubte Gräben öffnen sich aufs neue. Erkaltete Krisen weiten sich aus, werden heißer, brutaler, unerbittlicher, tödlich… Und immer geht es darum, der Wahrheit eine Gasse zu schlagen, den Gegner mit seiner Meinung zu überwinden und zu besiegen. Warum bitte sehen wir wieder voller Grauen auf einen Krieg im Nahen Osten und beobachten wie hier jede Vernunft versagt? Warum fürchten wir eine Weltwirtschaftskrise, die wie in Zeitlupe eine Enteignung vieler Menschen mit sich zu bringen droht?

Weil wir das Prinzip von Wahrheit und Lüge zum Despoten gesellschaftlicher Auseinandersetzung machen. Warum leben wir in einer bunten Zuckerwattewelt und verkriechen uns als Gesellschaft in Unterhaltung und Ablenkung? Weil wir zu schwach sind, die Wahrheit zu ertragen? Nein, weil wir nicht erkennen, dass es mehr gibt als schwarz und weiß, richtig und falsch, gut und böse. Die Welt ist ungleich komplizierter und niemand von uns – auch wenn er das behauptet – ist in der Lage, einen Besitzanspruch auf Wahrheit anzumelden.

Die Wahrheit kann auch eine Keule sein, mit der man andere erschlägt. Anatole France, frz. Schriftsteller und Nobelpreisträger (16.04.1844 – 12.10.1924)

Das Internet ist dabei uns zu verändern. Eine geistige Evolution setzt ein, die zugleich Verlockungen und Gefahren in sich trägt. Ohne die aufopfernde Arbeit alternativer Medien wären wir alle etwas dümmer, schlechter informiert und wahrscheinlich leichtgläubiger. Sie helfen uns, Informationen zu vernetzen, und unsere Rückschlüsse zu ziehen. Doch zugleich verdammt sie uns dazu, unsere ach so menschlichen Eigenschaften wie Angst, Eitelkeit und den Wunsch nach Dominanz zu frönen. Ohne Aufklärung geht es nicht.

Nur wer hinter die Kulissen guckt, hat die Chance sich ein eigenes Bild zu machen. Doch was wird aus der Irritation, die sich daraus ergibt? Was machen wir mit unserem Wissen? Was geschieht, wenn wir alles wissen. Können wir garantieren, dass wir dann eine bessere Welt schaffen? Oder geht es uns, wie schon so vielen Gesellschaften, Kulturen und Gemeinschaften zuvor? Versetzt uns eine gedankliche und dann vielleicht auch reale Revolution in die Lage, unsere Ureigenschaften zu überwinden – und es besser zu machen?

Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt, die Wahrheit steht von alleine aufrecht. Benjamin Franklin, US-Staatsmann, Ökonom und Naturforscher (17.01.1706 – 17.04.1790)


Bildquelle: Gerd Altmann (pixelio)