Wie kann Zusammenleben aussehen? Zwei Schwestern reisen um die Welt, um das zu entdecken. Eine Reise nach Utopia…

Lisa und Julia sind Schwestern. Gemeinsam reisen sie seit Juli 2017 ohne Flugzeug um die Welt und suchen nach gelebten Utopien. In den nächsten vier Jahren wollen sie Aussteiger*innen, Ökodörfer und politische Aktivist*Innen besuchen, um zu verstehen, was diese Menschen antreibt, wie sie leben und inwiefern ihre Ideen und Träume als Anregungen für eine lebenswerte Zukunft dienen können. Gerade hat sie ihre Reise nach Utopia in die Karibik verschlagen. Danach wollen sie durch Venezula nach Kolumbien weiterreisen. Dazwischen haben sie einen kleinen Stop gemacht, um unsere Fragen zu beantworten…

Wer seid ihr?

Julia: Ich habe Psychologie studiert, war aber eher enttäuscht von dem Studium. Interessiert haben mich allerdings die Forschungen zum Thema Gruppendynamik und Konflikte. Im Jahr 2015 habe ich wwoofing in einer Gemeinschaft in Frankreich gemacht und ein Jahr später eine Gemeinschaft in Italien besucht. Dabei habe ich mir viele Gedanken über das Leben in der Gemeinschaft gemacht.

Mich hat vor allem die Dynamik zwischen den Menschen interessiert: trotz gemeinsamer Ideale gab es zwischen den einzelnen Mitgliedern viele Konflikte. Ich habe mich gefragt: Was ist die Basis eines friedlichen Zusammenlebens? Sind es Ideale, Regeln oder Kommunikation? Während meines Praktikums beim Bund für soziale Verteidigung (BSV) – einer Friedensorganisation aus Minden – habe ich gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien sowie gewaltfreie Kommunikation kennengelernt. Während der Reise möchte ich mein Wissen zu diesen Themen vertiefen.

Lisa: Ich habe Fotografie studiert und arbeite seither als freie Fotografin an verschiedenen Projekten mit gesellschaftspolitischem Fokus. Passend zu unserem Projekt habe ich letztes Jahr eine Reportage über »gelebte Utopien« für die TAZ in Berlin gemacht. Am Ende der Reise wollen wir unsere Erlebnisse in einem Fotobuch zusammenstellen.

Und wieso diese Reise nach Utopia?

Lisa: Los gereist sind wir aus verschiedenen Motiven. Seit unserer Jugend befassen wir uns mit Kapitalismuskritik und alternativen Lebensformen. Auf die Frage, wie das Leben in einer friedlichen und freien Welt aussehen könnte, in der Menschen in und mit der Natur leben, ohne entfremdet, ausgebeutet und unterworfen zu sein, haben wir als Antwort oft gehört: »Ach, ihr mit euren utopischen Vorstellungen …das funktioniert doch sowieso nicht.

Der Mensch ist dazu nicht in der Lage!« Aber was ist »Der Mensch«? Formt das vorherrschende System die Menschen oder formt der Mensch das System? Wie sieht die Lebenswelt der Menschen aus, die Alternativen erschaffen haben? Gibt es Orte, an denen Menschen das leben, was die meisten als »utopisch« bezeichnen würden? Diese und andere Fragen haben uns neugierige gemacht.

Julia: Wir waren beide nicht wirklich zufrieden mit dem, was wir an der Uni gelernt haben. Statt in den festgelegten, oft starren Strukturen weiter zu studieren, wollen wir einfach in die Welt rausgehen und unsere eigenen Erfahrungen machen. Denn: Wie lerne ich am Besten etwas über den Menschen? Bei den Menschen selbst natürlich! Viele Bücher, die ich in der Uni gelesen habe, viele Theorien in der Psychologie stammen vor allem von Menschen aus dem westlichen Kulturkreis. Was aber kann ich von Menschen aus anderen Kulturkreisen lernen? Wie gehen sie zum Beispiel mit Konflikten um?

Wie sieht euer Tag aus, wenn ihr unterwegs seid?

Lisa: Heute mitten in der Natur das Zelt aufschlagen, morgen auf einem Strohbett in der Scheune einer Bäuerin übernachten – jeder Tag ist ein Abenteuer und Reisen wird so zum echten Erleben. Wir wollen vor allem langsam reisen: wenn wir trampen, mit dem Rad oder zu Fuß von Ort zu Ort kommen, stehen wir in unmittelbarem Kontakt zur den Menschen und deren Lebenswelten.

Aber auch die Natur mit ihrer Schönheit und Vielseitigkeit hat uns immer schon fasziniert. Die Kraft des Amazonas kennenlernen, in einer Blockhütte in Kanada leben und abends neben dem Rauschen eines wilden Flusses in Alaska ein Lagerfeuer anzuzünden – darauf freuen wir uns jetzt schon.

Warum wir uns der Herausforderung stellen, die Welt ohne Flugzeug und sehr wenig Geld zu umrunden, ist wahrscheinlich aus einer Mischung von Abenteuerlust, dem Bedürfnis die eigenen Grenzen kennen zu lernen und Neugierde heraus entstanden. Wir wollen uns den Regeln der Natur anpassen, die langsame Veränderung von Fauna und Flora beobachten und uns fortbewegen, ohne einen allzu großen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen.

Wo seid ihr gerade und was macht ihr jetzt gerade?

Julia: Gestern sind wir in Kolumbien angekommen. Bis hierher sind wir, außer durch Venezuela, getrampt. Auch den Atlantik haben wir per Anhalter überquert, mit insgesamt fünf verschiedenen Segelbooten. Nachdem die Überquerung insgesamt drei Monate gedauert hat, widmen wir uns jetzt wieder unserem Projekt und machen uns auf die Suche nach gelebten Utopien in Kolumbien. Unser erstes Ziel ist ein kleines Projekt in der Nähe von Medellin, von dort aus geht es dann irgendwann weiter Richtung Süden.

Was sind eure nächsten Ziele und Etappen auf eurer Reise nach Utopia?

Lisa: Jetzt verbringen wir erst mal ein Jahr in Südamerika. Wo wir wann genau sein werden, steht noch offen. Nach Südamerika reisen wir durch Mittelamerika weiter nach Mexiko, in die USA, nach Kanada und dann nach Alaska. Von Alaska aus wollen wir irgendwie über die Beringsee nach Russland kommen, dann weiter durch die Mongolei, Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Iran, Armenien, Georgien, Türkei, Griechenland, Bulgarien und Ungarn reisen … bis wir wieder in Deutschland sind.

Wie hat euch die Reise jetzt schon verändert?

Lisa: Wir sind entspannter geworden und haben gelernt, geduldig zu sein. Das Warten am Straßenrand oder am Hafen nicht als Zeitverlust, sondern als meditativen Moment zu betrachten. Ein Moment, in dem wir Zeit haben unsere Umwelt bewusst wahrzunehmen und aktuelles Geschehen als das zu nehmen, was gerade jetzt und hier um uns herum passiert. Wir arbeiten immer noch daran, die Idee loszuwerden, dass wir endlich da-und-da ankommen wollen. Oder, dass wir jetzt lieber da-und-da sein würden. Den Moment einfach als pures SEIN zu betrachten, das ist eine große Kunst.

Von den Menschen, die wir in den Gemeinschaften besucht haben, konnten wir viel über Geduld lernen. Ein Kürbis wächst halt nicht von heute auf morgen. Er braucht Zeit. Menschen werden nicht innerhalb eines Tages zu einer funktionierenden Gruppe und leben für immer glücklich und zufrieden Seite an Seite. Das Leben in Gemeinschaft ist ein langer Prozess und erfordert ebenfalls Geduld. Vorstellungen von einer besseren Welt lassen sich nicht in einer Woche umsetzen. Sie brauchen Zeit zum Gedeihen und Auszureifen. Und sie brauchen einen starken Willen und Durchhaltevermögen.

Julia: Wir lernen vor allem, uns und unsere Stellung in der Welt und in diesem System zu hinterfragen und zu reflektieren. Warum können wir uns so frei durch die Welt bewegen und andere Menschen nicht? Welche Verantwortung haben wir dadurch?

Wie wird diese Reise nach Utopia euer Leben verändern, was hofft ihr?

Julia: Für unser Leben nach der Reise träumen wir von einer Gemeinschaft, die wir mit ein paar Freunden selbst gründen wollen – irgendwo zwischen Bergen und Meer. Wir hatten uns vor unserer Reise mit ein paar Leuten schon ausgemalt wie dieser Ort aussehen soll: Ein altes Haus irgendwo im Grünen, das für Jede*n genug Platz und Raum bietet, um den eignen Fähigkeiten und Vorlieben nachgehen zu können. Möglichst autark mit einer eigenen Energieversorgung, einem Garten und so weiter.

Wir wollen das, was wir während der Reise gelernt haben, in unserem eigenen Gemeinschaftsprojekt anwenden. Wir stellen uns vor, unser gesammeltes Wissen dann in Form von Seminaren oder Diskussionsabenden mit möglichst viele Menschen zu teilen.

Vielen Dank für das Gespräch. Und wir wünschen euch weiterhin eine gute Reise!

Weitere Infos zu Julias und Lisas Reise gibt es unter: www.outthere.eu