Die Bundestagswahlen sind gelaufen, die mutigen Iren in der Europa-Frage eingeknickt und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise dabei, unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten zu verändern. Die Geschichte wird greifbar, saugt uns auf und nimmt uns mit, in eine ungewisse Zukunft. Es bleibt keine Zeit zum Durchschnaufen. Etwas Mächtiges, Großes und Beunruhigendes zeichnet sich am Horizont ab und wir sind mittendrin – nicht nur dabei. Wir werden Zeitzeugen eines Wandels, der mit „Change“ noch nett umschrieben ist. Denn was wir erleben, beginnt bereits unser Innerstes nach Außen zu kehren und uns aus unserer wohligen Gemütlichkeit aufzuscheuchen. Es wird Zeit, sich von den (guten) alten Zeiten zu verabschieden und… Farbe zu bekennen.

Fangen wir gleich da an, wo es weh tut: So einfach wie sich das viele vor wenigen Jahren noch dachten, ist es nicht. Die Wahrheit allein reicht nicht, um eine Wende herbeizuführen. Dafür ist sie zu schwer zu fassen. Es reicht nicht, dass alle wissen, was schief läuft und wer dafür verantwortlich ist. Es geht viel mehr um die Einsicht, TROTZ der unterschiedlichen Wahrheitsbilder die wir vertreten, Lösungen für ALLE zu finden. Auch dann, wenn wir uns lieber in unserer eigenen Wahrheit verkrümeln oder kämpfen möchten.

Vor kurzem las ich einen Ausspruch von Gustave le Bon, einem französischen Arzt, der sich intensiv mit Themen wie Massenpsychologie, Psychologie und Soziologie befasst hat. Der Satz stammt aus dem Jahre 1895 (so heißt es), hat aber bis heute nichts an seiner Schärfe verloren:

„Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet,
von den Tatsachen, die ihnen missfallen,
wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern.
Der, der sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr.
Der, der sie aufzuklären versucht, stets ihr Opfer.“

Und dann wundern sich all diejenigen die sich im Besitz schrecklicher Wahrheiten meinen, dass ihnen diese nicht freudig aus den Händen gerissen wird? Ominöse Momente der Weltgeschichte, große Augenblicke die alles veränderten, sie alle weisen immer auch den leicht entzündlichen Geruch von Lüge und Verrat auf. Wie sonst wäre ein Volk dazu in der Lage, sich so sehr in Rage zu denken, dass es bereit ist, seinen Führern in Kriegen „bis in den Tod“ zu folgen – selbst wenn es die Hintergründe nicht ganz durchschaut? Ob erster Weltkrieg, offiziell ausgelöst durch ein undurchsichtiges Attentat, zweiter Weltkrieg durch einen fingierten Überfall eines Nachbarlandes auf deutsches Territorium, die Revolutionen mit ihren vorangegangenen Heilversprechen an die darbende Bevölkerung, immer war doch die Wahrheit das erste Opfer.

Die Wahrheit nicht mehr aussprechen? Nein, auf keinen Fall.

Niemals. Nie. Mag die Wahrheit in schweren Zeit zuerst verstummen, ganz sterben kann sie nicht. Denn sie existiert überall dort, wo es einen Menschen der, eine Pflanze die, ein Tier, ein Bewusstsein gibt, dass sie „wahr nimmt“. Das hört sich vielleicht etwas seicht an, aber es steckt wesentlich mehr dahinter. Denn in unseren heißen Zeiten, in der die Wahrheit als solche zunehmend existenzielles Szenario wird, bekommen wir einen anderen Bezug zu ihr. Mit einem Mal entdecken wir, die Privilegierten dieser Erde, oft für die Wahrheit anderer gedankenlos, dass wir es uns hier, in unserem Nest „Wohlstand“, behaglich gemacht haben, während Millionen anderer Menschen weltweit eine ganze andere Wahrheit leben mussten und müssen. Die Krise zwingt uns dazu, uns selbst zu hinterfragen. Früher oder später. Vielleicht erleben wir hier gerade einen kollektiven, globalen Quantensprung – und merken es nicht einmal.
Jede große Entwicklung ist in ihren Dimensionen erst von späteren Generation tatsächlich einschätzbar. Wir erleben sie als Teil einer Geschichte, unserer Geschichte, die irgendwie in eine noch größere Geschichte – die Weltgeschichte – verstrickt ist.

Wir erleben unsere eigene Freude und eigenes Leid, unseren ganz persönlichen Film, mit uns selbst in der Hauptrolle. Doch haben wir keinen Überblick… selbst diejenigen nicht, die glauben ihn zu haben. Niemand überschaut das Ganze. Deshalb zieht er immer wieder Grenzen um seine Welt, um seine Realität, seine Wahrheit, so gut er kann. Und wenn er dann doch beides zerbröseln sieht, so wird er zu einer unzufriedenen Seele, dem Unger(ä)chten, Unverstandenen und Ungefragten. Er wird seine Wahrheit in der Krise umso mehr verteidigen, da Wahrheit Sicherheit ist. Oder aber er wird resignieren, zynisch – voller Weltenekel – den vermeintlich inneren Frieden in Zurückhaltung oder Ablenkung üben. Was bleibt, ist die ihm eigene – sich jetzt aber wandelnde Wahrheit. Wahrheit die er sich selbst erarbeitet oder bereit ist, von anderen vorgesetzt zu bekommen. Gibt es ihm Sicherheit, so wird er sie bereitwillig schlucken.

Es gibt so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. Deshalb geht es in der Welt weniger um die Wahrheit selbst, als vielmehr um Mehrheiten. Es geht darum, Gruppen zu bilden und Verbündete zu sammeln, sich zu bestätigen, gegenseitig aufzubauen, zu bekräftigen und was sonst noch gut tut. Es geht um Wahrheit, natürlich, und darum sie auszusprechen. Es geht darum, dass Recht zu haben, die Wahrheit sagen zu dürfen. Selbst dann, wenn man sich nicht sicher ist, nicht wirklich an sie glaubt, oder eben verdreht, um damit noch viiiiiiiel mehr Verbündete zu finden. Und von da an geht es jedoch um etwas ganz Grundsätzliches: Unsere Macht über das was wir für wahr halten; und den Alleinanspruch sie durchzusetzen.

Gerade deshalb sind wir ja so unerbittlich, wenn es um die „Wahrnehmung“ unserer Interessen geht. Wir wollen, das unser Bild von der Wahrheit sich durchsetzt? Wenn wir es fertig brachten, Jahrzehnte in Friede, Freude und Eierkuchen zu leben – ohne das uns die Wahrheit des Leides in der Welt davon abhielt, uns gut zu fühlen… wie wertvoll kann dann unser Urteilsvermögen in Sachen Wahrheit sein? Wenn wir sogar daran mitgewirkt haben, das Leid in der Welt zu vergrößern, wie steht es dann um unser Recht, das Weltbild das uns dazu legitimierte, jetzt um so heftiger zu verteidigen? Und wir hören ja noch nicht einmal auf damit, sondern machen weiter – als Individuum, als Nation oder Staatenbund – fühlen uns als Beobachter, sind aber mittendrin. Wir selbst ändern uns und geben so der ewigen Frage, ob wir das System oder uns Menschen ändern müssten, neuen Schwung. Schwung für den Ausweg aus der Misere?

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Ein Quantensprung?

Es gibt so viele Auswege wie es Menschen gibt. Doch was uns hindert, uns zu einem kosmopolitischen Ganzen zusammen zu tun, dass ist unser individueller, höchst egoistischer Wunsch, die Wahrheit nicht nur zu beherrschen, sondern sie notfalls zu erzwingen. Ein zwanghafter Akt, der seit Anbeginn in unseren Genen schlummert.

Doch genau hier ist der Quantensprung, ist der große Bewusstseinsschub möglich. Durch die Fähigkeit, sich zu einem Wesen zu entwickeln, dass seine individuelle Freiheit nicht opfert und trotzdem Teil des Ganzen ist, es fördert, es trägt, aber auch getragen wird. Also, weder egoistischer, gieriger Konsum und Kapitalismus, noch erzwungene Gleichmacherei und Unterdrückung einer Diktatur. Auch wenn alles dagegen zu sprechen scheint. Auch wenn manche glauben, sie könnten gerade jetzt ihre Wahrheit der ganzen Welt aufdrücken. Es ist zu erkennen, dass hier größere, viel mächtigere Kräfte an Werk sind.

Wir erleben einen Moment der Weltgeschichte, der ganz besonders die Privilegierten in die Pflicht nimmt. Denn Globalisierung erzeugt politisch und wirtschaftlich eben auch globale Phänomene. Dass wissen wir durch die aktuelle Weltwirtschaftskrise oder die weltweite Sympathie die Barack Obama entgegen gebracht wurde.

Wir erleben einen historischen Augenblick: Einerseits werden fast alle weltweiten Märkte, einschließlich der Volkswirtschaften von den großen Spielern dominiert. Andererseits zerfällt das System und schafft weltweite Unzufriedenheit und globalen Missmut bei den Menschen. Das Ergebnis der Entwicklung ist zumindest schon mal das Aufeinanderprallen krass entgegen gesetzter Wahrheiten, von reich und arm, mächtig und ohnmächtig. Hier entsteht ein Riss in der Weltbevölkerung, der trotz allen Geldes, aller Macht und allen Wollens nicht beherrschbar ist. Von keiner, auch noch so mächtigen Gruppe. Denn das Prinzip Egoismus ist in der Konsequenz tödlich. Je härter der Existenzkampf, desto härter die Spielregeln, desto größer die Verluste. Wenn wir uns alle zu Haien machen und im Becken schwimmen, uns gegenseitig fressen müssen, um zu überleben, werden die Großen erst die Kleinen fressen und dann sich gegenseitig. Der Letzte verhungert elend.

Ist nun die Angst gefressen zu werden größer oder die Vernunft die das Fressen infrage stellt? Wir könnten von jetzt auf gleich zu einem kosmopolitischen Wesen, einem freien Menschen werden. Doch noch entscheiden wir uns für Fliehen oder Kämpfen – ohne darüber nachzudenken, dass wir selbst die Gefahr sind, die uns dazu nötigt.

Es gibt viele Auswege

Wer will, der kann sich von der alten Welt gleich hier und heute verabschieden. Sicher ist, dass sie nicht so bleiben wird. Und das ist womöglich gut so, denn das zwingt uns zum Nachdenken. An erster Stelle über uns selbst, aber gleich an zweiter an diejenigen die heute schon leiden müssen. Ob weit entfernt oder direkt vor unserer Tür. Der Einstieg in eine neue Welt ist nicht die Neuzündung des alten Systems. Dieses wird von ganz allein zerfallen und noch viele in den Abgrund mitzureißen suchen. Der Einstieg in eine bessere Welt ist keine Partei, keine Ideologie, kein …ismus, sondern der direkte Wille, anderen zu helfen. Der ehrliche Wunsch, ihre Not zu lindern. Lange genug galt, dass wir zuerst an uns selbst zu denken hätten. Doch dieser Wahn führt ins sichere (innere und äußere) Chaos, da es nicht unbegrenzt immer mehr für alle geben kann.

Es geht darum, sich mal hinzusetzen und den eigenen Wahn zu überdenken. Den Wahn der Beste sein zu wollen, der Schlauste, der Reichste oder Mächtigste. Das sind gute, wirtschaftliche Antriebsmotoren, aber kosmopolitisch gesehen, recht armselige Motivationen. Was raus springt ist vielleicht ein Denkmal, ein fetter Eintrag im Welterfolgsallmanach, aber gewiss nicht das, was unserem Leben wirklich Sinn gibt und uns glücklich macht. Im Gegenteil… durch den eigenen Wahn zu Jugend, Schönheit und Erfolg, erkennen wir nicht mehr, was uns Alter, Hässlichkeit oder Armut lehren können und begehren lassen sollten. Ganz ohne alle Ideologie. Allein das menschliche Gefühl das uns spüren lässt, dass unsere Höchste Aufgabe das Wohl der anderen ist, das das Projekt „Welt“ nur dann gelingt, wenn es ALLEN so gut wie möglich geht. Das ein wesentlicher Sinn unseres Daseins in der Fürsorge und Menschlichkeit liegt. Solange wir diesen Pfad nicht verlassen, unsere Welt gedeiht. Sobald wir uns gegen sie stellen, unsere Welt für die meisten ihrer Bewohner ein unerträglicher Ort wird.

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Es gibt viele Auswege aus der Misere, da wir viele sind. Doch es kann auch ein vielfaches an Schmerz bedeuten, wenn wir uns jetzt erst recht gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Wenn wir durch Krisen wie diese nicht von allein darauf kommen, das etwas an unserem Wahrheitsmodell nicht stimmt, dann wird die Geschichte uns dazu zwingen, uns alle, und ohne Ausnahme. Es wird wohl eine harte Zeit und einen „Kampf um die letzten Krümel“ geben, doch mit ihr geht auch eine Welt dahin, die für einen kleinen Teil der Menschheit wie ein Paradies, für die meisten aber wie die Hölle war. Das wir zu dem kleinen Kreis gehör(t)en, das sollte uns nicht jammern lassen, sondern vielmehr zu denken geben.

Die Bundestagswahlen sind gelaufen, die mutigen Iren in der Europa-Frage eingeknickt und die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise dabei, unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten zu verändern. Die Geschichte wird greifbar, saugt uns auf und nimmt uns mit, in eine ungewisse Zukunft. Es bleibt keine Zeit zum Durchschnaufen. Etwas Mächtiges, Großes und Beunruhigendes zeichnet sich am Horizont ab und wir sind mittendrin – nicht nur dabei. Wir werden Zeitzeugen eines Wandels, der mit „Change“ noch nett umschrieben ist. Denn was wir erleben, beginnt bereits unser Innerstes nach Außen zu kehren und uns aus unserer wohligen Gemütlichkeit aufzuscheuchen. Es wird Zeit, sich von den „guten alten Zeiten“ zu verabschieden und… Farbe zu bekennen.

Jeder Tag ist ein neuer Tag und an jedem Tag können wir neu entscheiden, was wir tun. Wir haben in unserer Konsumgesellschaft mehr unsinniges Zeug angesammelt und produziert als wir je brauchen werden. Andere haben nichts. Wir sitzen bequem in den Sesseln und schimpfen auf die Welt im Ganzen, während sie im Kleinen zugrunde geht. Dafür können wir „das System“ verantwortlich machen, oder uns, da wir dieses System tragen. Ganz gleich, wir sind verantwortlich für das was nun kommt. Für das, was wir aus unserer Welt machen – oder andere daraus machen lassen. Die einzige Bremse im dem aus dem Ruder gelaufenen System „Zivilisation“ sind wir selbst. Und wenn wir nicht wollen, dass wir als Menschheit durch die Zimmerdecke der Geschichte gehen, dann sollten wir von der Bremse Gebrauch machen. Der Zeitpunkt wäre gut.

Bildquelle:
Verena N., Karin Schmidt, arkadius neumann, Pixelio.de