»Viel wird darüber gesprochen, wogegen wir kämpfen wollen. Wenig darüber, wofür eigentlich«, der Empört-Euch-Autor Stéphane Hessel mit einem denkwürdigen Plädoyer.

Stéphane Hessel zieht die Massen an

Es ist schon erstaunlich, welche Massen dieser kleine, zierliche Greis aus Frankreich anzieht. Als ich am Samstag morgen im Hamburger Theater Kampnagel ankomme, in dem der legendäre Diplomat und Autor des schmalen Büchleins »Empört Euch!« zur Diskussion geladen ist, geht das Gerangel um die besten Plätze gerade eben los. Die Zahl der (kostenlosen) Tickets war zwar im Vorfeld beschränkt worden, doch die Platzwahl war es nicht. Also rein ins Getümmel, rauf auf die Tribünen und ran an die Stuhlreihen.

Vor, hinter und neben mir absolut bunt gemischtes Publikum: Junge (Studierende?) im klassischen Aktivisten-Outfit neben rüstigen Senioren, typische Barcamp-Betahaus-Vertreter neben Alt-Feministinnen, Helmut-Kohl-Anhänger neben Marxisten. Und vielleicht macht das eben auch seine Größe aus, denke ich mir beim Erkämpfen meines Platzes – dass dieser kleine, mutige Franzose es schafft, Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen, Weltbildern und Erfahrungen zusammen zu bringen. Und so geht es weiter.

Andrang bei der Diskussion mit Stéphane Hessel auf Kampnagel, Hamburg

Wir können es schaffen, meint Stéphane Hessel

Kaum beginnt Stéphane Hessel zu reden, macht er auch schon Mut: Ja, es lohne sich, für unsere gemeinsamen, europäischen Werte zu kämpfen. Ja, wir als Weltgemeinschaft können den sogenannten Chicago Boys – darunter allen voran Milton Friedman – und ihrer schrecklichen, menschenverachtenden Ideologie die Stirn bieten und deren verheerende Folgen überwinden. Ja, wir können die (Euro-)Krise meistern. Leicht wird es nicht, meint Hessel, aber es ist zu schaffen. Wenn wir bereit sind, wirklich für etwas zu kämpfen. Und wenn wir für uns ganz persönlich die entscheidenden Werte wiederfinden: Demokratie, Freiheit und vor allem auch Solidarität.

Die Zuschauertribüne ist brechend voll. Dieses Männelchen sitzt klein auf der Bühne. Doch das Publikum scheint an seinen Lippen zu hängen. Fast jeder zweite Satz wird begeistert beklatscht. »Wir junge Menschen verehren Sie so, weil Sie einer der wenigen alten Menschen sind, die die heutige Jugend schätzt und lobt und ermutigt«, meint die Jura-Studentin im Kostümchen, die die Ehre hat, Hessel zu interviewen. Und das scheint nicht nur für die Jugend zu gelten, sondern für die Menschen aller Altersstufen und gesellschaftlichen Herkunftsnischen. Hessel schlägt die Menschen mit seiner mitreißenden Wertschätzung, mit seiner Mut machenden Akzeptanz, mit seiner aufrührerischen Warmherzigkeit in seinen Bann. Denke ich…

Umring von Fans und Medien: Stéphane Hessel auf Kampnagel, Hamburg

Ersehnte Werte versus gelebte Demokratie

Endlich wird auch eine Fragerunde eingeleitet (dafür dass es um Demokratie und das Social Web geht, ist die Veranstaltung der ZEIT Stiftung äußerst restriktiv und geringstmöglich interkativ…). Und schon hagelt es Kritik von allen Seiten. Hat mich der fast schon frenetische Beifall getäuscht? Oder sind das die Ausnahmen, die immer etwas zu meckern haben? Doch die Kritik scheint nicht ganz unberechtigt: Wieso Hessel nicht mal Tacheles rede? Wieso wir nicht über die eigentlichen Ursachen der globalen Finanzkrise debattierten? Wieso Hessel meine, wir sollten uns (auch) in der Politik und den demokratischen Institutionen engagieren – wo diese doch schon längst von dem kleinen 1 Prozent regiert würden, das das Geld und damit die Macht dieser Welt in den Händen hält? Ob er nicht auch finde, dass Kapitalismus und Faschismus die gleichen Wurzeln hätten? Und wieso er die Armen und Ausgebeuteten in den sogenannten Entwicklungsländern dieser Welt mit keinem Wort erwähne?

Frontalangriffe, denen die beiden Moderatoren (neben der kostümierten Studentin gibt es noch einen Mann) und der größte Teil des Publikums abwehrend bis aggressiv gegenüber steht. Aus dem Publikum kommen Buh-Rufe, sobald jemand länger als eine Minute spricht. Die Moderatoren versuchen höflich, aber sichtlich genervt, die Tiraden aus dem Publikum zu unterbrechen. Es hätte doch alles so schön sein können… Aber Moment mal: Ist das nicht die Freiheit, Demokratie und Solidarität, die Hessel gerade – unter heftigem Applaus – eingefordert hat, frage ich mich? Fängt echte Toleranz und ernst gemeinte Demokratie nicht genau dort an, wo ich auch mal zuhöre, selbst wenn jemand über etwas redet, was ich nicht hören will?

Wir müssen für einen neuen Menschen kämpfen, Stéphane Hessel auf Kampnagel, Hamburg

Es geht um Wichtigeres als die Finanzkrise, sagt Stéphane Hessel

Ich grüble noch über die den Menschen innewohnende Inkonsequenz, da ergreift Hessel wieder das Wort. Nicht gekränkt, nicht aggressiv, nicht defensiv. Nein, ruhig, bescheiden und in freundlichen, wertschätzenden Worten geht er auf die Kritik der Fragenden ein: Er habe ganz und gar nicht das Gefühl, dass er an der Oberfläche kratze, wie ihm das gerade vorgeworfen worden sei. Nein, vielmehr meine er, dass er tiefer gehe, als ’nur‘ zu den Ursachen der Finanzkrise. »Wir brauchen eine Welt, in der die Menschen mehr Mitgefühl haben. Egal ob mit Armen, Kranken oder Immigranten – es ist beängstigend, wie wenig Respekt wir gegenüber den Anderen haben. Das liegt viel tiefer als Kapitalismus und Faschismus. Wir müssen für einen neuen Menschen kämpfen«, meint er.

Damit ist die Diskussion, die gerade spannend zu werden ‚drohte‘ leider beendet. Verständlich: Stéphane Hessel ist über 90 Jahre alt. Deutsch zu reden und zu hören strengt ihn sichtlich an – wofür er sich dann auch noch, die Bescheidenheit in Person, entschuldigt. und wie er da so gestützt auf die Arme seiner Begleiter zum Ausgang wackelt, bewundere ich ihn, dass er diese ganzen Mühen überhaupt noch auf sich nimmt. Und mir wird klar, warum er solch eine Faszination ausübt. Er scheint es zu schaffen, das zu leben, was er fordert. Und damit ist er heute ein seltenes Vorbild. Dennoch – denke ich beim Rausgehen: Es muss ein Zusammenspiel sein zwischen den Werten des Einzelnen und den notwendigen Veränderungen im System, im Gesamten. Aber vielleicht war letzteres ja auch ’nur‘ als eine wohlmeinend kaschierte Kritik an den Kritikern zu verstehen gewesen…