Wie jemand im Swinger-Club, der versucht nicht nackt zu erscheinen, so wirke Deutschland derzeit, meinte gestern ein Ägypter in einer der zahlreichen Polit-Talkshows. Er bezog sich damit auf die (Ent)Haltung der deutschen Bundesregierung in Sachem Libyen. Doch so ein bisschen blieb mir das Schmunzeln im Halse stecken – denn so manchmal habe ich das Gefühl, diese Beschreibung trifft gar nicht mal so wenig auf mich zu. Und sicher auch auf viele andere Menschen: Wir versuchen unser Leben so gut wie möglich zu leben, ecken an den so genannten Sachzwängen an (mancher fügt sich ihnen williger als andere) und hoffen, so ein einigermaßen sinnvolles Leben zu führen. Dabei geraten wir allerdings viel zu schnell in eine bequeme Routine, bei der sich auch Dinge einschleifen, die eigentlich hinterfragt werden müssten. Oder es gibt Widersprüche und Konflikte zwischen unserem Leben und unseren Idealen, die uns zwar schmerzlich bewuss sind – bei denen wir aber nicht wissen, wie wir dies auflösen sollten. Nun ist mir ein Buch in die Hände gefallen, dass sich solchen Fragen auf philosophische Weise nähert. Der Autor Wilhelm Schmid meint, das wir die Lebenskunst – unser Leben als Kunstwerk zu betrachten und aktiv zu gestalten – viel zu sehr vernachlässigen.
Doch was ist Lebenskunst überhaupt? Hier gibt es natürlich Ideologien, Religionen und andere spirituelle Rahmen sowie Philosophien in Hülle und Fülle. Bereits die alten Griechen haben im Grunde eigentlich das Wesentlichste erkannt: Für Diogenes beispielsweise war ein „schönes Leben“ ein Leben, das man frei und autark führt. Wir alle kennen das Bild vom Philosophen in der Tonne. Epikur soll das laut Schmid ähnlich gesehen haben. Für die Stoiker ging es hingegen vor allem darum, den „okkupierenden Geschäften zu entfliehen, sich auf sich zu wenden und Selbstaneignung zu betreiben“, schreibt Schmidt. Mit Selbstaneignung meint er im übrigen, dass man Herr seiner Selbst ist – also nicht getrieben von seinen unbewusst-emotionalen Ängsten etc. oder von Süchten und ähnlichem. All ihr Streben habe dem „Freisein von Unruhe“ gegolten. Ich stelle mir vor, dass dies ein ähnliches Ziel ist, wie das, das man mittels Meditation zu erreichen versucht.
Einen kleinen Sprung in der philosophischen Geschichte nehmen, gelangen wir zu Montaigne. Er rät zu einer „Grundhaltung der Skepsis, die alle Dinge und auch das Selbst in ständiger Bewegung sieht, nichts als endgültig feststehend anerkennt, nicht von der Gewissheit eines Wissens ausgeht. Wenn nichts der Selbstverständlichkeit unterliegt, dann ist alles neu zu bestimmenund ständig eine essayistische (A.d.V. eine experimentelle) Existenz zu führen“. Bei aller Freiheit, bei aller Selbsterprobung muss jedoch natürlich immer Kants kategorischer Imperativ gelten, der besagt, dass alle unsere moralisch relevanten Handlungen so sein müssen, dass sie auch ein allgemeines Gesetzt sein könnten. Mit anderen Worten: nichts davon sollte etwas sein, was wir nicht akzeptieren könnten, würde es ein anderer tun.
Dann kommt die Romantik Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts und mit ihr eine Hochzeit der Lebenskunst. Schiller schreibt über die „ästhetische Erziehung des Menschen“, Friedrich Schlegel über die „Lebenskunstlehre“Novalis über die „Kunst zu leben“. Sie alle suchen eine „ästhetische Existenz, das Einssein mit allem, die Aufhebung der Zeit in einem intensiven Augenblick und in diesem Sinne das wahre Leben“, schreibt Schmid. Das erinnert schon an einige Zeitgenossen. Man kann hier schön sehen, wie lange manche philosophische Gedanken und Lebensgefühle die Jahrhunderte überdauern.
Doch dann kommt die Moderne – und mit ihr pragmatischere Richtungen der Lebenskunst. „Die Romantik formuliert die Ideale, die die Pragmatik zu realisieren verspricht. Die modernen Individuen sind besessen vom Gedanken an das wahre Leben, sie hoffen, es zu realisieren durch den Besitz der Güter, deren industrielle Produktion nun anläuft, aber sie sind nicht im Besitz ihrer selbst. Die Selbstmächtigkeit der Individuen, diese ebenso antike wie aufklärerische Idee, gerät erneut in Vergessenheit“, schreibt Schmid und weckt damit zumindest in mir Assoziationen zu LOHAS-„Lebenskunst“-Konzepten, die meines Erachtens zum Scheitern verurteilt sind, da sie nicht weit genug aus dem uns so einschränkenden Gedankenraster ausbrechen, um unsere aktuellen Problem – allen voran die Verseuchung und Ausbeutung unserer Umwelt – zu lösen.
Georg Simmel ist laut Schmid derjenige, der sich „wie kaum ein anderer … mit den widersprüchlichen Phänomenen der Moderne auseinander (setzt), … jedoch eine Position der Unabhängigkeit zwischen den modernen Extremen von haltloser Romantik und rationalisierter Pradmatik (bewahrt)“, meint Schmid. Sein besonderes Augenmerk liege eben auf genau jenem (modernen) Konflikt zwischen Leben und (lebenskünstlerischer) Form – die in Einklang zu bringen und/oder ihre Widersprüchlichkeit auszuhalten eben gerade die Kunst ausmacht.
Doch ganz so „machtlos“ und „ohnmächtig“ sind wir natürlich nicht. Merleau-Ponty gibt laut Schmid genauere Auskunft darüber, wie wir unser Leben (im Sinne eines Lebenskunstwerks) gestalten können. Ähnlich dem Ansatz eines essayistischen Lebensentwurfs – basierend auf einer grundlegenden Skepsis, die nichts als gegeben ansieht – geht er davon aus, dass wir unsere Welt – unsere Lebenswelt – immer wieder neu sehen. Mit jeder neuen Erfahrung, jedem neuen Gedanken, jeder neuen Idee, jedem neuen Kontakt sehen wir sie ein Stück weit neu. Damit impliziere die Lebenswelt die Fragen der Lebenskunst. Denn wo etwas immer wieder neu interpretiert wird, da muss es auch immer wieder neu konstruiert, geschaffen, entworfen und mit bereit Bekanntem verwoben werden.
Laut Sartre ist dieser Wille zur Gestaltung des eigenen – und damit auch des Lebens anderer oder einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft – die einzige Möglichkeit eines sozialen, kulturellen und politischen Fortschritts. „Sartre setzt an beim Individuum, um zur „Praxis“ zu kommen, er glaubt nicht an den gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte“, schreibt Schmid. Die Frage dabei ist natürlich, wie weit unsere „Konstruktionsfreiheit“ unsere „Gestaltungsfreiheit“ reicht? Dazu zum einen an andere Stelle mehr, wenn ich mich mit der Frage von „Macht und Selbstmächtigkeit“ auseinander setzen will.
Aber grundsätzlich kann man – denke ich – feststellen, dass wir unsere Handlungs- und Gestaltungsfreiheit wohl eine systematische unterschätzen. Bzw. uns zu leicht von „der Mehrheit“ in Verhaltensweisen ziehen lassen, die eigentlich gar nicht unseren Lebenszielen dienen – oder anders und vielleicht schöner gesagt: die nicht geeignet sind, um die Form unseres Lebens so zu erschaffen und gestalten, wie wir dies eigentlich möchten (übrigens widmet Schmid auch dem Thema „Gewohnheiten“, „Sorge“ und „Lüste“ eigene Kapitel, die u.a. Aufschluss darüber geben können, wie wir uns nicht so leicht von der Mehrheit in Verhaltensweisen ziehen lassen).
Man sieht also: eigentlich wurde so fast alles schon gedacht, durchdacht. Sicherlich gibt es immer wieder neue Erkenntnisse, beispielsweise der Hirnforschung, die neue philosophische Überlegungen notwendig machen (dazu wurde mir unlängst ein Buch von Georg Lakoff mit dem Titel „Philosophy in the Flesh“ empfohlen, das ich allerdings noch nicht gelesen habe). Wir haben so viele Möglichkeiten, uns mit unserem Leben, dessen Sinn und Zweck – und auch der richtigen Umsetzung – gedanklich und praktisch auseinander zu setzen. Wir sollten in unserem Leben einfach mal bewusst Zeiten einbauen, in denen wir dies auch intensiv tun. Ich denke, so eine „Kurskorrektur“ (oder vielleicht auch nur „Kursbestätigung“) ist unendlich wichtig, geht aber im Alltagsstress oft unter. Daher kann ich das hier genannte Buch jedem empfehlen, der mal wieder Lust und Muse dazu hat. Kapitel, die einen auf den ersten Blick nicht ganz so interessieren, kann man dabei getrost überspringen und später lesen.
BUCHTIPP
„Philosophie der Lebenskunst“
Wilhelm Schmid
Suhrkamp Verlag
ISBN 3-518-28985-3
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