Was ist es für Dich: Das gute Leben? Und was brauchen wir dafür? Aus der Indigenen Kultur Lateinamerikas schwappt die neue-alte Philosophie des „Buen Vivir“ in unsere westliche Konsumgesellschaft. Wir haben sie für Dich in 9 Forderungen zusammengefasst.
Die Entstehung des Buen Vivir
Bereits seit vielen Jahrhunderten gibt es in den indigenen Kulturen Lateinamerikas die Idee des „guten Lebens“ – des „Buen Vivir“ oder auch „Sumak Kawsay“. Über die Zeit der Kolonialisierung bis hin in die heutige Zeit des Neoliberalismus hat sie sich gehalten – und verbreitet sich heute angesichts der Sackgassen, in die der Kapitalismus weltweit gelandet ist.
2008 verankerte Ecuador als erstes Land „Buen Vivir“ sogar als Staatsziel in seiner Verfassung. Damit ist es neben Bhutan – das als Staatsziel das Bruttonationalglück anstrebt – das einzige Land weltweit, dass Prinzipien festgeschrieben hat, die dem globalen Kapitalismus und auch dem Sozialismus zu einem guten Stück weit widersprechen.
Doch was ist die Idee des „Buen Vivir“ nun eigentlich? Die Indigenen Lateinamerikas befürchten, dass wir Europäer ihre Sicht auf die Welt, die sich damit ausdrückt, gar nicht wirklich nachvollziehen und verstehen können. Dennoch hat mich die Lektüre des Buches „Buen Vivir“ von Alberto Acosta – der ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass „Buen Vivir“ Eingang in Ecuadors Verfassung fand – so inspiriert, dass ich euch in 9 Punkten skizzieren möchte, worum es bei der Idee des „Buen Vivir“ geht.
1. Buen Vivir für alle statt Dolce Vita für wenige
Die Idee des „Buen Vivir“ kann man auf keinen Fall gleichsetzen mit der Vorstellung, dass durch den internationalen Kapitalismus und die Globalisierung bzw. Liberalisierung der Märkte irgendwann alle Länder so viel Wirtschaftswachstum verzeichnen, dass alle Menschen dieser Erde in Wohlstand leben. Im Gegenteil: Das Versprechen des so genannten „Trickle Down“ Effekts – wonach der immerzu steigende Reichtum einiger weniger dafür sorgen wird, dass auch etwas Wohlstand für die armen Menschen „heruntertropft“ – hat sich für die Vertreter des „Buen Vivir“ nicht erfüllt.
Statt dessen erleben wir, wie Armut und Reichtum immer weiter auseinander driften – und wie sich internationale Organisationen und mächtige Staaten aufgrund ihrer überbordenden Macht, einfach über Recht und Gesetz hinwegsetzen können. „Buen Vivir“ verwirft daher diese Vorstellung und tritt für eine wesentlich stärkere Umverteilung ein – genauer gesagt eine solche Umverteilung, dass alle gut leben können.
2. Entwicklungsgedanken überwinden
Das schließt insbesondere ein, dass Verfechter des „Buen Vivir“ die Vorstellung bekämpfen, es könne „unterentwickelte“ Länder geben, die nur genug „Entwicklungshilfe“ bräuchten, um irgendwann mit den „fortschrittlichen“ Wirtschaftsnationen „mithalten“ zu können.
„Während mit ‚Entwicklung‘ versucht wird, das Leben auf der Erde zu ‚verwestlichen‘, greift das ‚gute Leben‘ die Diversität auf und schätzt und respektiert das ‚Andere'“, schreibt Acosta in seinem Buch. Denn der Gedanke der „Entwicklung“ zielt ja letztlich auf eine Monokultur des menschlichen Zusammenlebens und Wirtschaftens ab – wobei es die Rohstoffreichen Länder, die schon unter der Kolonialherrschaft besonders zu leiden hatten, weiterhin im Würgegriff hält.
3. Postextraktivismus einläuten
Deshalb geht mit der Überwindung des Trickle-Down- und Entwicklungsmythos auch die des Extraktivismus einher. Damit bezeichnet Acosta in seinem Buch „Buen Vivir“ das Prinzip, dass rohstoffreiche Länder (auch die links regierten) soweit sie können ihre Bodenschätze ausbeuten – vielfach ungeachtet der oft verheerenden ökologischen und sozialen Konsequenzen.
Das es auch anders geht, versuchte Ecuador anhand das Yasuni Nationalparks zu demonstrieren: Die Regierung wollte die Erdölvorkommen belassen, die sich in der Erde des Parks befinden – und damit nicht nur das Ökosystem erhalten, sondern auch die indigenen Menschen, denen das Gebiet eigentlich gehört, dort wohnen lassen.
Doch wie so oft kam die Politik dann doch dazwischen: Acosta beschreibt in seinem Buch, wie die Ecuadorianische Regierung die Absage des ehemaligen Entwicklungsministers Dirk Niebel als willkommenen Anlass genommen haben soll, um dieses so wichtige Beispielprojekt fallen zu lassen.
4. Mensch und Natur vereinen
Die Forderung nach einem Zeitalter des Postextraktivismus fusst nicht nur auf der Tatsache, dass sich die Rohstoffe unserer Erde langsam aber sicher erschöpfen und stattdessen Klimawandel und Müllberge hinterlassen. Sie basiert auch auf der vollkommen anderen Weltsicht der indigenen Kultur, in der die Pachamama – die Mutter Erde – nicht etwas außerhalb der Menschen ist.
In ihrer – wie ich finde nachvollziehbaren – Vorstellung sind die Menschen ein Teil der Natur. Der Schutz der Natur ist deshalb auch der Schutz von uns selbst. Eine Tatsache, die auch wir in den westlichen Industrienationen eigentlich schon längst erkannt haben, ohne dem jedoch wesentlich Konsequenzen folgen zu lassen.
5. Natur als Rechtssubjekt etablieren
Der Vorschlag des „Buen Vivir“ ist es nun, die Natur international als Rechtssubjekt einzusetzen. Das hört sich vielleicht merkwürdiger an, als es ist, wenn man bedenkt, dass selbst juristische Personen – also beispielsweise Rechtsformen wie eine GmbH oder eine AG – Rechtssubjekte sind, die für ihre Rechte klagen können.
Nun stell Dir vor, Umweltorganisationen und -aktivisten könnten im Namen der Natur – etwa des Yasuni Nationalpark oder einer aussterbenden Tier- oder Pflanzenart – vor einem internationalen Gericht klagen!
6. Anthroprozentrische Logik des Kapitalismus beenden
Alles in allem würde das (und etliche weitere Vorschläge) auf ein Ende der anthroprozentrischen Sichtweise unserer Kultur hinauslaufen. Damit ist gemeint, dass fortan nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung steht – der als „Krone der Schöpfung“ quasi dazu befugt ist, sich die Natur Untertan zu machen.
Vielmehr ist der Mensch dann nicht mehr und auch nicht weniger wert als Tiere, Pflanzen und andere Mitglieder der Ökosysteme. Neben den internationalen Menschenrechten müsste es dann so etwas wie internationale Naturrechte geben, findet Acosta. Außerdem bräuchten wir eine „Entmerkantilisierung“ von Natur – und damit genau das Gegenteil von dem, was derzeit mit CO2-Zertifikaten und dem Naturschutz als Geldanlage zunehmend im Gange ist…
>> https://www.youtube.com/watch?v=5Qsva182oUE
7. Die Postwachstumsgesellschaft erfinden
Für alle westlichen Industriegesellschaften würde damit zwangsläufig die Ära des ewigen Wirtschaftswachstums enden. Heute leben wir hier extrem auf Kosten der Menschen in anderen, meist armen Ländern. Wollten alle Menschen so leben wie wir, bräuchten wir dafür die Ressourcen von drei Erden! Es ist klar, dass das nicht geht. Wer also eine gerechte, globale Verteilung will, der muss einsehen, dass wir hier weniger konsumieren müssen.
Und das bedeutet, dass wir eine schrumpfende Wirtschaft haben werden. Vertreter des sogenannten Postwachstums (oder auch Degrowth) beschäftigen sich deshalb damit, wie eine solche Gesellschaft aussehen kann – und wie wir dahin kommen ohne Soziale Ungerechtigkeit, Panik und Aggression. Postwachstum geht wiederum Hand in Hand mit dem Postextraktivismus im globalen Süden.
8. Solidarität, Gegenseitigkeit und Harmonie entwickeln
Damit geht die Philosophie des „Buen Vivir“ sowohl über die des Liberalismus, als auch über die eines Sozialismus oder Kommunismus hinaus: „Im Rahmen des ‚Guten Lebens‘ sollen weder das Individuum noch die Vielfalt der Individuen und erst recht nicht die Gleichheit und Freiheit geleugnet werden“, schreibt Acosta in seinem Buch. Zusätzlich lässt es das Ideal einer ständig steigenden, materiellen Güteranhäufung hinter sich. Denn damit einher geht Konkurrenz, Konflikt und Umweltzerstörung – und das kann kein „gutes Leben“ sein.
„Buen Vivir“ zielt vielmehr darauf ab, das genug für alle da ist. Das alle Menschen, Tiere, Pflanzen etc. gleichwertiger Teil einer großen Gemeinschaft sind – der Mutter Erde – und es nur dann ein „gutes Leben“ geben kann, wenn keiner auf Kosten von anderen lebt, sondern alles in einem natürlichen Gleichgewicht ist.
9. Dialogmöglichkeiten und Reflexionszonen schaffen
Das „gute Leben“ setzt daher auch sehr stark auf Diversität, also der Unterschiedlichkeit von Menschen und Gemeinschaften. Deswegen sind die Vertreter des „Buen Vivir“ zum Beispiel auch für einen plurinationalen Staat – also einem Staat mit mehreren Nationen, Sprachen und Völkern, wie etwa Bolivien. Dieser Wille zur Vielfalt in der Einheit ist es, der den Dialog darüber, wie ein Zeitalter des „Buen Vivir“ aussehen soll, überhaupt erst möglich macht.
„Der wahre Beitrag des ‚Guten Lebens‘ liegt in den Dialogmöglichkeiten, die es bereithält. Er eröffnet uns ein weites Feld für Reflexionen, wie der Umsturz des herrschenden Ordnungssystems gelingen kann“, meint Alberto Acosta dem entsprechend auch am Ende seines Buches. Die Philosophie des „Buen Vivir“ ist damit für immer mehr Menschen ein Hoffnungsträger für eine Zeit nach dem Neoliberalismus.
Buen Vivir: Links zum Thema
- PDF-Broschüre „Buen Vivir“ der Heinrich Böll Stiftung
- PDF-Broschüre „Buen Vivir“ der Rosa Luxemburg Stiftung
- Symposium „Buen Vivir“ in Halle (2013) www.buenvivir-in-halle.de
- Artikel über das Brutto-Sozialglück von Buthan
- Der-Freitag-Artikel über Plurinationalismus
- Beitrag in Die Zeit über Ecuadors Rettungsplan des Yasuni Nationalpark
Buen Vivir
Vom Recht auf ein gutes Leben
Alberto Acosta
208 Seiten, oekom verlag
ISBN-13: 978-3-86581-705-1
Preis: 16,95 Euro
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Bildquelle: Cancillería del Ecuador (via flickr)
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