»Durch die Vielfalt menschlichen Lebens können wir neue Lösungen finden, wenn wir selbst mit unserem Latein am Ende sind«, Linda Poppe von Survival International über die Bedeutung indigener Völker. Ein Interview.

Ein Zeitungsartikel über den Völkermord an der indigenen Bevölkerung Brasiliens war vor gut 40 Jahren der Anlass für die Gründung einer internationalen Organisation, die heute über 50 aktive Mitarbeiter weltweit sowie Büros in ganz Europa und den USA hat und von mehr als 250.000 Menschen finanziell unterstützt wird: Survival International (www.survivalinternational.de). Das Ziel: Indigene Völker schützen, beraten, unterstützen und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.

Zu diesem Zweck sind die Mitarbeiter von Survival in allen Kontinenten dieser Welt unterwegs, um Menschenrechtsverletzungen zu recherchieren und für die Regierungen, Unternehmen, internationale Organisationen wie die UN und die Öffentlichkeit zu dokumentieren und PR- sowie Lobby-Arbeit zu leisten. Auch Linda Poppe kam über einen Zeitungsartikel zu ihrem Engagement. Das war vor anderthalb Jahren. »In Deutschland sind indigene Völker kein Thema. Wenn doch darüber diskutiert wird, schwingen oft Vorurteile und Missverständnisse mit. Deshalb finde ich es so wichtig hier Aufklärungsarbeit zu leisten«, erklärt sie. Wir wollten ebenfalls mehr wissen und führten mit ihr ein Interview.

Linda Poppe (links) ist Koordinatorin Survival Deutschland und setzt sich seit 1,5 Jahren für den Schutz indigener Völker ein.

Was sind indigene Völker eigentlich?

Das ist eine sehr gute Frage – auf die es keine wirklich genaue Antwort gibt. Ganz allgemein versteht man darunter Menschengruppen, die sich von der Hauptgesellschaft eines Landes unterscheiden und oft auch marginalisiert sind. Angehörige indigener Völker sind zudem in aller Regel die Nachfahren der »ersten« Bewohner eines Gebietes, haben eine sehr spezielle Beziehung zu ihrem Land und verstehen sich selbst als »indigen«. Schätzungsweise fallen circa 350 Millionen Menschen unter diese Definition. Das sind vier Prozent der Weltbevölkerung.

Aber wie gesagt, es gibt keine wirklich gute Antwort. Ein Mensch, der sich kleidet wie der Mainstream, mit dem Handy telefoniert und in Rio de Janeiro studiert kann genauso indigen sein wie ein Jäger und Nomade im Amazonasregenwald.

Was können wir von ihnen lernen? Inwiefern bereichern sie unsere Welt?

Es gibt sicher Vieles, was wir lernen können. Wir haben ja auch in der Vergangenheit schon viel von indigenen Völkern übernommen: Grundnahrungsmittel oder Medikamente zum Beispiel. Sie zeigen uns auch wie Gesellschaften anders funktionieren können, zum Beispiel wenn es um die Organisation von Gemeinschaftsgütern geht. Aber ganz egal was man letztlich voneinander lernen kann, so ist allein die Tatsache, dass es indigene Völker gibt, wie eine Lebensversicherung: Durch die Vielfalt menschlichen Lebens und Wissens können wir immer wieder neue Lösungen zu wichtigen Problemen finden, wenn wir selbst mit unserem Latein am Ende sind.

Warum ist es wichtig, indigene Völker zu schützen?

Es gibt zwei grundlegende Argumente sich für ihren Schutz einzusetzen. Zum einen müssen wir die Rechte indigener Völker schützen, wenn uns Menschenrechte etwas wert sind. Wenn wir nicht in der Lage sind, die Rechte von Menschen zu respektieren, die anders sind als wir und die diese Rechte – aufgrund ihrer marginalisierten Position – zum Überleben brauchen, sind Menschenrechte nichts weiter als ein Lippenbekenntnis. Zum anderen brauchen wir die schon erwähnte menschliche Vielfalt. Wenn indigene Völker ausgelöscht werden verlieren wir Gesellschaften, die seit Jahrtausenden erfolgreich überlebt haben – und damit auch all ihr Wissen.

Dieses Bild enstand beim Besuch einer Guarani Gemeinde in Brasilien. Die Guarani haben fast all ihr Land an Farmer verloren und leben teilweise entlag von Bundesstraßen an der Grenze ihres angestammten Landes

Es gibt ja auch schon einige indigene Völker, die sich zur Wehr setzen. Kannst Du etwas zur »Geschichte des Widerstands« sagen? Und wie unterstützt ihr die Völker dabei?

Unterdrückung indigener Völker gibt es schon seit über 500 Jahren und schon viele haben sich dagegen organisiert. Früher war Widerstand oft gewaltsam. Ich glaube das lag vor allem daran, dass sie keine Alternativen hatten.Sie hatten damals keine Rechte, die durchsetzbar waren. Sie wurden offen als minderwertig, wertlos und zurückgeblieben bezeichnet. Mit den Menschenrechten und der Veröffentlichung teilweise schockierender Berichte von Mord, Versklavung und Unterdrückung indigener Völker, rückten ihre Probleme ins Bewusstsein vieler Menschen. International und national wurden und werden ihre Ansprüche zunehmend in Recht gegossen. Deshalb können sich indigene Völker heute immer öfter auch selbst in Organisationen zusammenschließen und so Widerstand leisten  –  endlich haben sie damit auch Erfolgsaussichten.

Wir arbeiten oft mit indigenen Gruppen, die erst seit kurzem oder noch gar keinen regelmäßigen Kontakt zur »Außenwelt« haben. Dabei sehen wir, dass die Kenntnis über die eigenen Rechte sowie die Erfahrung (internationaler) Unterstützung die Menschen motivieren sich selbst zu organisieren und Rechte einzufordern. Wir unterstützen diese Entwicklung so gut wir können, stellen unsere Expertise und andere Ressourcen bereit und verstärken ihre Anliegen und Forderungen, indem wir zum Beispiel eine internationale Unterschriftenaktion organisieren. Unsere Erfahrung zeigt einfach, dass öffentlicher Protest und Widerstand die besten Mittel gegen Rechtsverletzungen sind.

Wie entscheidet ihr, wann ihr wem helft – und wann nicht?

Wir suchen uns meist die Fälle aus – wenn man von »aussuchen« sprechen kann –, die besonders dramatisch und für die betroffenen Menschen existenziell ist. Das betrifft oft indigene Völker, die noch keinen oder nur wenig Kontakt zur Hauptgesellschaft hatten, denen jede Stimme und Lobby fehlt und für die es um’s blanke Überleben geht. Manchmal sind es auch Gruppen – wie die Guarani in Brasilien, das größte indigene Volk des Landes, das schon seit Jahrhunderten für seine Rechte kämpft. Unter den Guarani ist die Perspektivlosigkeit aber immer noch so groß, dass sich selbst Kinder das Leben nehmen. Es ist der blanke Horror, was sich dort in der reichsten Region Brasiliens abspielt.

Letztlich geht es aber natürlich nicht darum, irgend etwas zu tun – sondern etwas zu erreichen. Sonst war die Arbeit umsonst. Deshalb müssen wir immer auch prüfen, ob wir die Ressourcen haben, um einen Fall richtig zu betreuen: ob wir verlässliche Partner vor Ort finden können und ob unsere Hilfe überhaupt gewollt wird, um nur ein paar Kriterien zu nennen. Das kann manchmal Jahre dauern.

Survival Unterstützer protestieren vor De Beers gegen die Förderung von Diamanten auf dem Land der Gana und Gwi in Botswana

Auf eurer Website steht, dass viele indigene Völker gar nicht in der Lage sind ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Was sind die Kommunikationsschwierigkeiten?

Es gibt viele indigene Völker und Menschen, die ihre Interessen sehr gut vertreten können, die an Universitäten studieren oder Rechtsanwälte sind. Aber es gibt eben auch viele, die das nicht können. Wir gehen zum Beispiel davon aus, dass es circa 100 indigene Völker gibt, die bisher keinen friedlichen Kontakt zur Außenwelt haben – sogenannte »unkontaktierte Völker«. Für sie ist es unmöglich Beschwerde einzulegen, wenn ihr Land an einem Ölkonzern verteilt wird.

In anderen Fällen findet keine Kommunikation statt, obwohl es möglich wäre. Zum Beispiel wird das Land eines indigenen Volkes von einem Tag auf den anderen zum Naturschutzgebiet ernannt, sie werden nicht informiert und plötzlich kommen sie ins Gefängnis, wenn sie ein Wildschwein jagen, um ihre Familie zu ernähren.

Das Problem liegt meist darin, dass viele sich nicht die Mühe machen mit der indigenen Bevölkerung zu sprechen, Informationen in ihrer Sprache bereit zu stellen und so weiter. Das ist unbequem, würde sicherlich das eine oder andere Vorhaben kippen und setzt voraus, dass man indigene Völker nicht pauschal als unzurechnungsfähig und rückständig ansieht. In solchen Fällen sprechen wir in der Regel zunächst mit den Regierungen oder Konzernen et cetera. Wenn das nicht hilft machen wir ihre Verstöße publik oder unterstützen rechtliche Schritte der indigenen Gemeinden. Meist funktioniert das auch – wenn auch oft nicht von einem Tag auf den anderen.

Wie kann sich jemand bei euch engagieren?

Das hängt immer ein bisschen davon ab, wie viel Zeit man investieren kann. Der erste Schritt ist unseren Newsletter zu abonnieren, über den wir zu Protestaktionen aufrufen und über aktuelle Entwicklungen informieren. Alle die etwas mehr tun wollen finden auf unsere Webseite das kleine Handbuch „Walk Your Talk“ mit weiteren Tipps.

Vielen Dank Linda!


Survival International bietet eine Reihe von Videos online an unter www.survivalinternational.de/filme