Von der Feindesliebe

Der Krieg beherrscht den Gaza-Streifen. Mal wieder sprechen die Waffen und übertönen alle Vernunft – und jedwede Möglichkeit, sich friedlich zu verständigen. Kaum ist das besinnliche Weihnachtsfest vorbei, das Friedensfest der Christenheit, fragt man sich, was aus den hohen Idealen religiöser Philosophien so alles werden kann. Eine Frage, die man gerechterweise an alle drei großen Weltreligionen stellen muss. Denn keine von ihnen hat es wirklich geschafft, ihre Idealvorstellungen von der Welt oder auch nur auftretende Konflikte nachhaltig friedlich zu lösen. Grund genug sich über Sinn und Unsinn religiöser Dogmatik und gottgefälliges Handeln im 21. Jahrhundert Gedanken zu machen.

Ausgangspunkt ist ein derzeit wieder entflammter Konflikt zwischen Isrealis und Palästinensern. Ein Konflikt der eigentlich niemals überwunden war und immer wieder Menschen zu erbitterten Feinden machte. Frei nach dem Motto „Aug um Aug“, jagt ein Affront den nächsten, folgt Rache auf Rache, und das alles im Namen eines höheren Wesens. Dutzende von Politikern haben die Reise in die verfeindeten Länder angetreten, um eine politische Lösung zu finden. Bisher kamen sie alle erfolglos zurück: Die Fronten sind so verhärtet, so dass ein dauerhaftes Friedensabkommen – und damit endlich Ruhe und Sicherheit auf beiden Seiten – unerreichbar scheint.

Gerade wir Deutschen, die wir auf eine schreckliche Geschichte voller Widersprüche, Grausamkeit und Menschenverachtung zurück blicken, sollten gelernt haben, dass Hass nichts weiter erzeugt als noch mehr Hass, dass eine politische oder religiöse Idee stets daran gemessen werden sollte, ob sie das Leid der Menschen lindert oder eher noch erhöht. Keine Idee ist wirklich geeignet, Frieden unter den Menschen zu fördern, wenn sie im traditionellen Konterfei einer schwarz-weiß-Ideologie daher kommt. Unsere eigene Geschichte zeigt dies deutlich, aber auch alle bewaffneten Konflikte seither.

Gerade wir Deutschen sollten nicht nur aus unserer eigenen Geschichte lernen, sondern insbesondere aus unseren Fehlern und Vergehen. Gerade wir sollten uns um den Frieden in der Welt bemühen. Wenn wir vor der Welt schuldig sind, da unsere Großeltern in ein Verbrechen wider die Menschlichkeit verstrickt waren, selbst wenn wir zwei Generationen später geboren wurden, dann reicht es nicht unseren Friedenswunsch als Affront gegen diejenigen auszulegen, die ihre Interessen durch kriegerische oder terroristische Akte nachgehen – auf beiden Seiten. Wenn wirklich erwartet wird, dass wir lernen, dann sollte uns die Möglichkeit gegeben sein, überall dort zu wirken, wo wir Ungerechtigkeit ausmachen.

Was sollen wir dazu sagen, wenn wir aus der Ferne beobachten, dass Zivilisten zu Tode kommen, wenn Kinder, Frauen und alte Menschen für das sühnen, was sie nicht selbst getan haben? Wie sollen wir auf Ungerechtigkeit hinweisen? Das betrifft bei weitem nicht nur die aktuellen Kampfhandlungen in Gaza, sondern ein grundsätzliches Prinzip, das wir genauso im Irak, in Afghanistan, in Georgien, in Somalia und in anderen Regionen zu bewerten haben. Wir stellen fest, dass wir die Pflicht haben aufzuschreien, wann immer wir dieser Ungerechtigkeit gewahr werden. Gerade wir, die wir wissen, wohin Ungerechtigkeit führen kann.

In den Medien – auch im Internet – schlagen seit Beginn der aktuellen Kriegshandlungen die Wogen hoch. Auf der einen Seite hört man die Verdammung des Terrorismus (ohne Frage kein Mittel der Konfliktlösung) und (in diesem Fall) die Schuldzuweisung an die Palästinenser. Auf der anderen Seite wundert man sich, dass nicht auch die Israelis in vielen klassischen Medien kritisiert werden. Denn zum Streit gehören bekanntlich zwei. Es geht dabei gar nicht um die Frage, wer hier Schuld hat. Danach würden wir nicht als erstes Fragen, wenn wir auf der Strasse vor uns zwei Menschen sehen würden, die sich gegenseitig umzubringen drohen. Wir würden versuchen, die beiden zu trennen und dafür zu sorgen, dass es wieder zu einem Dialog kommt. Es geht vielmehr um die Handlung als solche, um die Bereitschaft einen anderen Menschen umzubringen, nur weil er anderer Meinung ist oder an etwas anderes glaubt. Denn noch einmal: Hier brauchen wir nur in die eigene Geschichte zu blicken und können sehen, welch schreckliche Folgen eine derartige Ideologie besitzt.

Es geht im 21. Jahrhundert nicht an erster Stelle um Religion, sondern um die Frage, ob wir nicht ganz andere (globale) Probleme zu lösen haben. Eine Milliarde Menschen hungert und wir wollen uns um Ideologien und Gottesbilder prügeln? Wer will behaupten, dass sein Gott dies so wünscht? Wer will behaupten, dass es einem Gott wichtiger sei, religiöse, kulturelle oder ideologische Feinde zu vernichten, als das Ende des Elends in der Welt herbei zu sehnen? Allein ein Blick auf die Ausgaben für Rüstung und Kriege dürften diesen Gott am Menschen zweifeln lassen. Wie unwichtig und nichtig sind doch unsere Absichten, wenn wir nicht versuchen, auch nur einen Hauch dessen auf Erden zu leben, was wir im Himmel erwarten? Hat die Menschheit aus ihren fürchterlichen Kriegen rein gar nichts gelernt?

Also: Wie man schon Kindern die sich streiten im Zweifelsfall – wenn sich nicht so ganz genau ermitteln lässt, wer Schuld am Streit hatte – sagen würde: „Es ist egal, wer von euch angefangen hat. Wichtig ist, dass ihr aufhört“ Keine Frage, dazu gehört ein stärkerer, internationaler Druck auf die Akteure. Denn letztlich kann man nicht davon ausgehen, dass es eine rein „gute“ oder „schlechte“ Seite gibt – das eine Seite „recht“ und die andere „unrecht“ handelt. Genauso wenig wie man erwarten kann, dass sich die Gemüter von ganz allein wieder abkühlen.

Wir wissen alle, dass sich die Menschheit nicht so einfach in Gut und Böse einteilen lässt. Wir kennen das von uns selbst und unseren Mitmenschen: Wir alle haben gute und schlechte Seiten. Wir alle können in manchen Situationen rational und weise sein – in anderen sind wir wieder emotional, ungerecht und verlieren unsere eigenen Vorstellungen darüber aus den Augen, wie wir uns anderen gegenüber eigentlich verhalten wollten; und welche Ideale wir anstreben. Da wir uns stets die Frage stellen sollten, was wir persönlich aus der Welt lernen können, die uns umgibt, drängt sich folgende Schlussfolgerung auf:

Auch wir haben unsere ganz persönlichen „Feinde“: Menschen, denen wir nicht vergeben zu können scheinen, die wir (vermeintlich) nicht verstehen, die uns verletzt haben oder die wir aufgrund ihrer Einstellung oder ihres Verhaltens grundsätzlich meinen ablehnen zu müssen. Je idealistischer ein Mensch ist – so die Erfahrung –, desto mehr Menschen gibt es für ihn, die ihm (oder ihr) als nicht akzeptabel erscheinen. Wer in dieser Welt der Unvereinbarkeit von Gegensätzen gefangen ist, der könnte sich doch mal für das neue Jahr vornehmen, diesen Menschen wirklich zu verzeihen, ihn (oder sie) wirklich zu akzeptieren – oder gar zu mögen!

Denn – und Achtung, hier wird es vielleicht ein bisschen pathetisch und auf jeden Fall auch religiös: Der Mann, dessen Geburtstag wir gerade neulich erst gefeiert haben, hat uns in seiner Bergpredigt mitgeteilt: „Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?“.

Wer sich also in seinem Alltag darum bemüht zu vergeben – und es tatsächlich schafft! –, der hat schon etwas ganz Besonderes erreicht – und der könnte sich vielleicht auch viel eher ein Urteil darüber erlauben, was für eine Größe und Stärke es für den einen oder anderen israelischen oder palästinensischen Politiker bedeuten mag, sich auf den langen und schwierigen Weg eines Friedensprozesses zu machen…

Im Moment ist mit Vernunft nicht viel zu gewinnen, denn wenn erst mal die Gemüter erhitzt sind, dann wird jeder, der eine Lösung sucht, in gleicher Weise angegangen wie der Feind. Doch aus der geschichtlichen Perspektive – vielleicht in 5, vielleicht in 10, 25 oder 50 Jahren – wird die Menschheit hoffentlich endlich erkannt haben, dass jeder Konflikt, jede Aggression, jedweder Hass, jeder Krieg und jede Anfeindung, die Welt stets schlechter – nicht besser – werden lässt.

Im Grunde genommen wünscht sich der Mensch Sicherheit und Frieden. Solange er meint, dass dieses nur über die Gerechtigkeit der eigenen Sache möglich ist, wird er sich – so wie wir Deutschen auch – später fragen lassen müssen, warum er sich nicht für diesen Frieden wirklich eingesetzt hat.

Es ist ein schwieriges Thema, doch die nächsten Konflikte stehen bereits vor der Tür. Wessen Aufgabe wird es sein, dafür zu sorgen, dass sie nicht zu einem Flächenbrand ausweiten? Welche Politiker (oder auch Unternehmer) haben die Courage „Gebt Frieden!“ zu rufen, wenn die Welt nach Krieg schreit? Hätte es in unserer eigenen Geschichte mehr Menschen gegeben, die sich gegen Unterdrückung und Kriegslust gestellt hätten, so wäre sie vielleicht anders ausgegangen. Darum erscheint es Pflicht und Aufgabe zu mahnen: Die Welt braucht Frieden und Solidarität. Sie braucht Fürsorge und ein Grundvertrauen unter den Menschen.

Wenn wir die nächsten Jahrzehnte überleben, unsere Umwelt und unsere Mitgeschöpfe, erhalten und schützen wollen, dann müssen wir den Dualismus des 20. Jahrhunderts, das Denken in Kategorien von Gut und Böse, von Weiß und Schwarz, überwinden. Nur eine Weltgemeinschaft, mit einer universalen ethischen Grundlage, wird eine wirkliche Chance auf Zukunft haben. Und an den Vorschlägen, was wir dafür tun und wie wir Konflikte überwinden können, sollten wir einander messen.