Schon 2008 diagnostizierte Colin Crouch die Post-Demokratie: Eine Mixtur aus passiver, weil frustrierter Bevölkerung; einer Elite mit ausgeklügelten Polit-Techniken; und einer ausufernden Lobbyisten-Macht transnationaler Konzerne. Doch mit der abgesagten griechischen Volksbefragung und den Ex-Bankern in italienischen und griechischen Politik-Führungsposten (selbstverständlich nicht demokratisch gewählt, denn dem Volk ist nun wirklich nicht zu trauen) scheint die Übernahme nun perfekt. Das Buch »Europa im Schlepptau der Finanzmärkte« blickt genauer auf ein Europa, das nicht an einem vermeintlich schwachen Euro zu zerbrechen droht – sondern an der fehlenden, demokratischen Legitimation.
»Wir kämpfen seit 4 Jahren erbittert gegen eine Hochfinanz und die Wirtschaftsbosse, die gewissenlosen Spekulanten, gegen die Klassenspaltung, den Partikularismus und gegen die Kriegsprofiteure. Sie alle hatten sich daran gewöhnt, die amerikanische Regierung als ein Anhängsel ihrer Geschäfte zu betrachten. Wir wissen nun, vom organisierten Geld regiert zu werden, ist genauso gefährlich wie von der Mafia regiert zu werden“.
Dies sagte nicht etwa jüngst der Friedensnobelpreisträger Barack Obama. Nein, dies sagte vor 75 Jahren Franklin D. Roosevelt. Denn – nein! – die Ereignisse, Entwicklungen und Krisen sind nicht in Gänze neu. Schon Roosevelt und Keynes erkannten die Gefahr eines deregulierten Finanzmarktes. Aber auf sie wollte keiner mehr hören – und nun haben wir den Salat.
Die Gewinner und Verlierer des auf Wettbewerb basierenden Euroraums?
Die Europäische Krisenstruktur
Und zwar einen umso schlimmeren Salat, da wir uns in einem Europa befinden, dass von Beginn an konsequent auf dem Finanzmarkt fußt: Immer waren es Wirtschaft und Geld (also die gemeinsame Währung, der Euro), die für ein weiteres Zusammenwachsen Europas, für eine stärkere Vernetzung, für Integration der verschiedenen Nationalstaaten im europäischen Verbund sorgten. Eine kulturelle oder gar soziale Integration wurde – das neoliberale Prinzip wurde spätestens mit dem Lissabon-Vertrag fest in das Bündnis eingeschrieben – immer vernachlässigt. Leider auch von unseren Gewerkschaften, die sich auf die nationalen Konfliktfelder beschränkten.
So ist ein Europa entstanden, dass die Menschen spaltet – anstatt sie zu vereinen, innerhalb der Länder wie zwischen diesen. Es hat ein System geschaffen, in dem Deutschland – dank fleißigem Lohndumpings – seine Exportvormacht ausbauen konnte. Zu Lasten anderer Länder, denn irgendwer muss mehr ausgeben, als er einnimmt, wenn wir mehr einnehmen, als wir ausgeben… Und der Finanzcrash 2007/2008 offenbarte diese Schieflage nur.
Seit dem lautet die Devise: Sparen. Den Gürtel enger schnallen (»Austeritätspolitik« lautet da der Fachbegriff, wie ich im o.g. Buch erfahren habe). Ein Rettungsschirm folgt dem nächsten. Mit dem »Euro-Plus-Pakt« müssen die Länder, die auf Gelder aus dem EU-Topf angewiesen sind, nun weit gehende Budget-Gestaltungsrechte abgeben.
Wenn man diese Grafik sieht, denkt man eigentlich zunächst an eine Krise der Unternehmensschulden – und nicht der Staatsschulden…
Wir sparen uns zu Tode
Doch: »Wo Parlamente und aus ihrer Mehrheit gebildete Regierungen – also Legislative und Exekutive – das Haushaltsrecht nicht in Anspruch nehmen können, wird Politik zum Kasperletheater. Wie das nationale Budget aufzustellen ist, obliegt nicht der Entscheidung des demokratischen Souveräns und der von ihm gewählten Repräsentanten, sondern wird von vermeintlichen Expertengremien der EU-Kommision und des IWF bestimmt, die selbst über keine demokratische Legitimation verfügen…«, schreiben Joachim Bischoff und Richard Detje.
Das heißt: eigentlich stehen davor noch die Spekulanten, die Rating-Agenturen und die Lobbyisten, die mit ihren Entscheidungen darüber befinden, ob ein Land überhaupt in jene Schieflage gerät oder nicht. Damit erlebt Europa einen dramatischen Demokratie-Verlust – und das obwohl es ohnehin schon immer für seine Demokratielücke bekannt war. Nach Ansicht von Hans-Jürgen Urban, einem weiteren Autoren des o.g. Titels, gibt es vier Punkte, die die Politik berücksichtigen müsste, um künftig den demokratischen Rückhalt in der Bevölkerung zu behalten (bzw. wieder zu stärken):
1. Es müssten Direkt-Demokratische Elemente auf europäischer Ebene eingefügt werden. Denn wo die Bevölkerung nicht mehr das Gefühl hat, dass die (gewählten) Volksvertreter tatsächlich Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls treffen – da helfen nur solche »imput-demokratischen« Maßnahmen. Überdies – so der Autor – könnten derlei Element auch tatsächlich bei der Auflösung des Innovationsstaus aufgrund der zunehmenden Lobby-Macht in Brüssel helfen.
2. Eine transnationale Öffentlichkeit muss die entsprechenden Themen diskutieren und so zur Willensbildung jenseits nationalistischer Angst-Entscheidungen beitragen. Diese transnationale Diskussion europa-politischer Themen ist laut Urban jedoch nicht nur wichtig, um bei direkt-demokratischen Bürgerbeteiligungen überhaupt qualifizierte Entscheidungen treffen zu können – sondern auch, weil diese so genannte »Input-Demokratie« nur funktioniert, wenn sich die Beteiligten mit, in diesem Falle, Europa auch hinreichend identifizieren können. Urban sieht hier möglicherweise einen Weg für die nach neuen Optionen suchenden Verlagshäuser, die diese Aufgabe ja bislang sträflich vernachlässigt haben.
3. Mehr diskursive Toleranz gegenüber Euro-Kritik ist laut Urban dringend notwendig. Zur Zeit wird jegliche Kritik sogleich als eine Kritik an Europa insgesamt diffamiert – und damit schnell auch mal in die »Ecke« gestellt. Doch eine Weiterentwicklung Europas erfordert auch, dass man bisher eingeschlagene Wege hinterfragt – ohne gleich den europäischen Einigungsprozess als solchen infrage zu stellen. Dazu gehört auch die ganz eklatante Frage, ob die oben beschriebene Austeritäts- und neoliberale Politik tatsächlich genug Perspektiven für Europas Bevölkerung bietet? Angesichts der derzeitigen Krise dürften wohl viele daran zweifeln.
4. »Die zähe Maulwurfsarbeit sozialer Bewegungen« zitiert Urban Jürgen Habermas. Was wir derzeit mit der spanischen Demokratiebewegung erleben, mit den Unruhen in Griechenland, Frankreich und Großbritannien (und vielleicht im Zuge der Occupy-Bewegung ja auch in Deutschland?) deutet darauf hin, dass die Bevölkerung den Demokratieverlust nur allzu deutlich bemerkt hat – und aufsteht und ihn einfordert.
Ist die so genannte Staatshaushaltskrise in Wirklichkeit eine Arbeitslosen- bzw. Niedriglohn-Krise?
Unser Fazit: lesenswert
Das Buch von Joachim Bischoff, Frank Deppe, Richard Detje und Hans-Jürgen Urban liefert dafür wertvolle Hintergrundinformationen. Es hinterfragt, was in unseren Medien und von unseren Politikern oft so alternativlos präsentiert wird: Wer sagt eigentlich, dass es sich hier tatsächlich um eine »Krise der Staatshaushalte« handelt? Portugal und Irland beispielsweise hatten bis zur Finanzkrise 2007 einen ausgeglichenen Haushalt… Und auch Griechenland und Spanien gerieten erst in ernste Schwierigkeiten, als die Zinsen für die Staatskredite in die Höhe schossen…
Wer sagt, dass es sich um eine »Euro-Krise« handelt? Der ist doch all die Jahre – auch heute noch – recht stabil? Wer behauptet denn, die »Rettungsschirme« seien »Rettungsschirme« – obwohl mittlerweile rund 45 Prozent aller griechischen Staatskredite in öffentlicher Hand sind… also ziemlich wenig »gerettet« und eigentlich nur viel umverteilt wurde?
Und wer sagt denn, dass das alles nicht in Wirklichkeit eine einzige, riesige »Arbeitslosen- und Lohndumping-Krise« ist? Dass nicht die stetig zurück gehende Wirtschaft und Binnennachfrage für immer weiter sinkende Staatseinnahmen, ergo auch unüberwindliche Schulden verantwortlich sind? Ja, doch. Wer sich mal mit ein paar der hausgemachten Mythen in Sachen »Euro-Krise« auseinander setzen möchte, für den dürfte dieses schmale Buch ein guter Einstieg sein.
Bibliografische Angaben:
»Europa im Schlepptau der Finanzmärkte«
Joachim Bischoff, Frank Deppe, Richard Detje, Hans-Jürgen Urban
VSA Verlag, ISBN 978-3-89965-482-0, 10.80 Euro
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