Harald Lemke ist freier Philosoph und Gastrosoph. Er engagiert sich für den Ausstieg aus der Massentierhaltung, Ernährungssouveränität und das Recht auf Städte aus Gärten. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, etwa »Politik des Essens«. Wir sprachen mit ihm über das gute Leben und was das mit unserer Ernährung zu tun hat.
Du bist unter anderem Gastrosoph – was ist Gastrosophie?
Das ist die Philosophie des Essens – also eine philosophische Annäherung an die globalen Ernährungsverhältnisse. Es ist der Versuch eine neue Wissensform begrifflich zu pointieren und einen ganzheitlichen Blick auf alle Aspekte unserer Ernährung einzuüben. Und ich hoffe, dass sich dieser Begriff in den nächsten Jahren ausbreitet und wir ganz selbstverständlich von der Gastrosophie sprechen.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Gastrosophie?
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass wir ganzheitlich über unser Essen nachdenken sollten. Essen ist nicht einfach nur etwas, was da auf dem Teller liegt. Essen ist einer der größten Faktoren unseres Naturverhältnisses. Unsere Ernährungsgewohnheiten bestimmen, wie wir in das Gesamtgeschehen unseres Planeten eingreifen. Die Frage ist: Was bewirken wir, wenn wir essen?
Außerdem ist Ernährung ein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Lebensmittelindustrie ist größer als die Auto- oder Computerindustrie. Essen beinhaltet auch den Aspekt der Gesundheit und der Kultur: Wie essen wir? Wer kocht? Wieso essen wir uns krank? In unsere Ernährung spielen also ziemlich viele Aspekte hinein. Das alles beeinflusst, wie wir über “Essen” nachdenken und wie wir uns ernähren.
Für diese Denkweise braucht man eigentlich kein Philosoph zu sein. Im Idealfall werden wir alle zu Gastrosophinnen und Gastrosophen. Die Philosophie hilft nur, dahin zu kommen. Die Gastrosophie hinterfragt unsere alltäglichste Lebenspraxis auch im Hinblick auf eine kritische Theorie des guten Lebens. Also der gesellschaftlichen Frage, wofür wir leben und was eine gemeinwohlorientierte Lebensweise ist, die zu leben für alle gut wäre?
Also die Currywurst auf die Schnelle ist nicht gerade gastrosophisch?
Ich denke, um diese Frage zu beantworten, muss man etwas ausholen. Wir haben über die letzten 300 Jahre die globalen Wirtschaftsstrukturen so eingerichtet, dass wir sehr wenig Geld für Lebensmittel bezahlen. Aber in Wirklichkeit gibt es gar keine billigen Lebensmittel. Unser Supermarkt-Schlaraffenland setzt die Ausbeutung von vielen Menschen voraus, die in der so genannten Dritten Welt von Hungerlöhnen und in Armut leben müssen.
Dann der Klimawandel, die Fettleibigkeit, FastFood, die Verarmung des Geschmacksurteils usw. Es sind leider sehr, sehr viele Probleme mit den vorherrschenden Ernährungsverhältnissen verbunden. Aber die gute Nachricht ist: Es gibt Alternativen.
Und was sind die Alternativen?
Die gesellschaftliche Realität ist das Resultat aller einzelnen Handlungen, die an sich zunächst einmal klein wirken. Doch jede Handlung schafft, reproduziert oder verändert „Gesellschaft“. Viele einzelne Esshandlungen bilden also eine große Masse dieser gesellschaftlichen Praxis und Realität.
Vieles, was wir beim Essen an ethisch problematischen Dingen tun, ist eigentlich legal: Ich begehe kein Verbrechen, wenn ich im Supermarkt auf Kosten anderer billig einkaufe. Wenn ich Currywurst esse, töte ich kein Schwein. Das macht die Sache so schwierig. Ich sehe einem Billigprodukt, einem Stück Fleisch nicht das Leid des Arbeiters, Tieres oder der Bauern an. Es scheint, als ob ich nichts Unmoralisches tue. Tatsächlich aber tue ich es.
Doch wir können aus dem Kaufakt als Mittäterschaft austreten. Es gibt Produkte aus fairem Handel und ökologischem Landbau, für die ich mich immer häufiger entscheiden kann. Diese tagtägliche Wahl ist weit wirksamer als die politische Wahl, wodurch sich nur das Personal austauscht, aber nicht die ökonomischen Strukturen.
Viele haben trotzdem nicht das Gefühl vor einer Wahl zu stehen, weil das Vertrauen nicht da ist: Wie fair sind denn Fairtrade-Produkte oder wie umweltfreundlich Bio-Label…
Natürlich gibt es auch im Bio-Bereich Schummeleien und Wirtschaftskriminalität. Nur: Was wären denn die Alternativen zu dem Ideal beispielsweise eines fairen Handels? Aus meiner Sicht sind solche Argumente vor allem Nebelbomben, die für diejenigen willkommene Ausreden sind, die einfach keine Lust haben, mehr zu bezahlen – aber dennoch ein ruhiges Gewissen haben wollen. Das Ganze verweist aber auch noch auf einen weiteren wichtigen Punkt: Hier stehen große Wirtschaftskonzerne im Hintergrund, die etwas zu verlieren haben. Und eben jeder Konsument, der es gewohnt ist, dass er durch schön billige Lebensmittel Geld für andere Konsumgüter sparen kann.
Was kann man noch tun, außer bewusst einzukaufen?
Man kann mehr selbst kochen. So gewinnt man Macht und Autonomie bei zahlreichen Entscheidungen, die bestimmen, was man isst. Hinzu kommen wieder wirtschaftliche Faktoren: Wenn ich nicht selbst koche, müssen das andere tun. Wir überlassen die Essenszubereitung anderen – vor allem Leuten, die möglichst viel Gewinn auf Kosten der Qualität und Güte der Zutaten machen möchten. Auch ihre Angestellten bezahlen sie dafür schlecht. Hauptsache, der Preis ist niedrig.
Jetzt würden manche sagen: Aber Hauptsache die haben einen Job…
Natürlich kann die Welt immer noch schlechter werden. Doch das ist kein Gegenargument dafür, dass diese Menschen eigentlich besser verdienen sollten. Das ist auch eine Frage des Stellenwertes und der Wertschätzung, was Wirtschaftsgüter wie Lebensmittel unserer Gesellschaft und uns selbst wert sind. Wofür ist denn die Wirtschaft da? Damit alles ausgebeutet wird für den möglichst niedrigen Preis oder damit wir gute Lebensmittel haben, also alle jene „Mittel“, die Menschen für eine gute Lebensweise brauchen?
Welche Rolle spielt die urbane Landwirtschaft?
Sie ist ein wichtiger Schritt hin zu einem guten Leben: Denn die einzige zukunftsfähige Nahrungsproduktion ist die lokal angepasste, biologische und kleinbäuerliche Landwirtschaft. Dafür wird in Zukunft, wo immer mehr Menschen in Städten leben, jeder zusammen mit anderen in einem Stadtteilgarten, also gleich vor der eigenen Haustür, einen Großteil seiner Nahrungsmittel selbst erwirtschaften müssen.
Das Wichtige an der Urban Gardening Bewegung der letzten Jahre ist die Erfahrung, dass diese gemeinsame Praxis den eigenen Lebensalltag und das urbane Leben bereichert. In der Erde wühlen und Gemüse wachsen sehen, ist einfach großartig und macht vielen weit mehr Spaß als die meiste Arbeit.
Muss man eigentlich Veganer sein, um Gastrosoph zu sein?
Das ist keine einfache Frage. Ich bin überzeugt, dass wir in einer besseren Welt leben würden, wenn wir alle Veganer wären. Aber nicht unbedingt 100-prozentig. Aus dem Tötungsproblem kommen aus meiner Sicht nämlich auch Veganer nicht heraus. Denn ob man Tiere tötet oder Pflanzen – beides sind Lebewesen. Mit anderen Worten: Auch Veganer töten.
Eigentlich käme es vielmehr unter dem Gerechtigkeitsaspekt darauf an, dass alle Menschen die gleiche Fleischrechte hätte. Wie bei den CO2-Verschmutzungsrechten. Die Menge bemisst sich daran, wie viel Tierhaltung mit einer nachhaltigen Nahrungsproduktion weltweit verträglich ist. Das wäre mit ziemlicher Sicherheit weit weniger als wir heute konsumieren. Schon jetzt entscheiden sich immer mehr – allerdings längst nicht genug – weniger oder gar kein Fleisch zu essen.
Kurz gesagt: Eine Ethik des guten Essen hängt nicht allein davon ab, ob man sich vegan ernährt. Dazu braucht es noch einiges anderes.
Wann ist es soweit, dass wir alle Gastrosoph*innen sind?
Nicht in den nächsten 10 bis 20 Jahren. Wohl eher in den nächsten 100 bis 200 Jahren – vielleicht auch erst in 2000 Jahren. Solche kulturellen Veränderungen brauchen größere Zeiträume. Die Fastfood-Mentalität unserer Zeit lässt sich bis auf Platon zurückführen. Er hat ein bestimmtes Weltverständnis in Gang gesetzt. Nämlich den Dualismus zwischen Körper und Geist: Was uns Menschen ausmache, sei unser geistiges Wesen, unser Verstand und Denken; das Essen hätten wir mit den Tieren gemeinsam und sei bloß ein körperliches Grundbedürfnis.
Diese Philosophie, die heute in der allgemeinen Begeisterung für Hirnforschung und Neurophilosophie fortlebt, sorgt dafür, dass wir Essen kulturell abwerten – diese Jahrtausende alte Weltanschauung wird sich vermutlich nicht so schnell ändern lassen. Dennoch ist richtig: Wir stecken schon längst in einer globalen Nahrungskatastrophe und müssen dringend unsere Haltung zum Essen ändern.
Insofern wäre Lust an der Veränderung wichtig. Ethisch handeln sollte cool sein. Momentan ist es genau anders herum. Wir machen uns klein: Der Einzelne kann nichts. Wir schieben die Verantwortung von uns weg und meinen, eigentlich müssten die anderen etwas tun – die Politiker etwa. Wir sollten uns eher Mut machen. Wir können uns selbst als Teil eines historischen Prozesses wahrnehmen, dessen Geschwindigkeit und Erfolg ganz maßgeblich davon abhängt, dass wir alle an der gesellschaftlichen Veränderung und einer besseren Welt mitwirken. Das tägliche Essen bietet dafür eine wirksame Praxis.
Lieber Harald Lemke, vielen Dank für das Gespräch!
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Links zum Thema
- Die Homepage von Harald Lemke: www.haraldlemke.de
- „Politik des Essens“ von Harald Lemke: www.transcript-verlag.de
- „Über das Essen. Philosophische Erkundungen“ von Harald Lemke: www.fink.de
- Wikipedia über Gastrosophie: https://de.wikipedia.org
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Wenn Veganer Pflanzen töten, töten sie dennoch weniger Leben, als die Fleischesser, die ein vielfaches der Pflanzen erst „ihren“ Tieren gefüttert haben um Fleisch zu erhalten
Die Aussage: „Denn ob man Tiere tötet oder Pflanzen – beides sind Lebewesen. Mit anderen Worten: Auch Veganer töten.“ finde ich schwachsinnig. Ich finde, dass es auch ethisch gesehen ein riesiger Unterschied ist, ob man Pflanzen isst, welche wissenschaftlich erwiesen keinen Schmerz spüren oder Tiere welche das definitiv tun.