„Ganz Deutschland diskutiert“ heißt es seit einiger Zeit mal wieder auf den Titelblättern einer großen Tageszeitung und man fragt sich langsam, woher die das wohl wissen mag. Und wenn man sich dazu noch fragt, zu welchem Ergebnis die „Diskussion“ führen wird, in der es vordergründig um Menschen geht die auf Hartz 4 angewiesen sind und die Frage, ob ihr Geld zum Leben reicht, ob es sinnvoll ausgegeben oder womöglich sogar zu großzügig von der Politik bemessen wurde. Dahinter verbirgt sich jedoch eine große Medienkampagne die womöglich nichts weiter will als die Solidarität innerhalb der Gesellschaft untergraben.

Losgetreten hat sie – so zumindest wird es dargestellt – Guido Westerwelle von der FDP, der (als Außenminister…) laut darüber sinniert, ob die Erhaltung eines Sozialstaates nicht dem Luxus „spätrömischer Dekadenz“ gleich käme. Die Frage ist also nicht, ob sich die „Leistungsträger“ selbst dekadent verhalten, in dem sie – gerade in Zeiten der Krise – noch immer dem Prinzip des größtmöglichen eigenen Vorteils nachgehen. Es geht nicht um die größte Enteignungskampagne der Welt die Finanzkrise genannt wird. Es geht auch nicht um die Frage der Solidarität als solches, sondern allein darum, ob „wir“ uns die Armen überhaupt leisten können. Angesichts mehrerer Hundert Milliarden Euro Schaden durch die Unterstützung für (systemrelevante) Banken ein geradezu grotesker Fall einer einseitiger Sichtweise.

Westerwelle und mit ihm die FDP solidarisiert sich mit denjenigen die noch in Lohn und Brot stehen, gleichfalls aber auch mit denjenigen die den Vorzug genießen, allein mit ihrem Vermögen noch weiteres Geld zu machen. Zumindest gibt es hier keine Abgrenzung. Es geht vordergründig um den „Mittelstand“, genauso aber um die Besitzenden, diejenigen die nach Westerwelles Aussage Leistungsträger der Gesellschaft sind. Doch so ganz stimmt das alles eben doch nicht, denn der Begriff Leistungsträger wurde nicht genauer definiert. Ist damit genauso die unterbezahlte Krankenschwester mit ihren Überstunden gemeint oder die Fachkraft die mal eben kurz gefeuert und dann als Leiharbeiter (mit reduziertem Gehalt) neu eingestellt wird? Geht es um die Billiglohnkräfte die den ganzen Tag vor irgend einem Fließband stehen und Waren produzieren die wir schon lange nicht mehr brauchen? Bringen die auch Leistungen (auch wenn sie davor elend gering bezahlt werden)? Nein, natürlich nicht. Leistungsträger zu sein, dass heißt anscheinend mehr als nur tagaus tagein zu arbeiten. Es ist eine Geisteshaltung.

Wer trägt hier die Leistung?

Die Leistungsträger von denen hier irgendwie auch die Rede ist, sind nicht nur fleißig, sondern vermögend. Man könnte sogar sagen, je mehr sie besitzen, desto mehr tragen sie daran. Auch wenn sie dafür tatsächlich gar nicht so viel tun müssen. Ein prima Wort also, denn es suggeriert uns eine gewisse Anstrengung. Immerhin wird hier etwas getragen, nicht nur im Sinne der Arbeit, sondern gleichfalls im übertragenen Sinne – Verantwortung vielleicht? Es geht also nicht allein um den stinknormalen Angestellten, der seinem sozialversicherungspflichtigen Fulltime-Job nachgeht, doch diesen soll die Kampagne erreichen. Alles, die gesamte Headline-Rhetorik und diversen Expertenstimmen, machen aus den arbeitslosen Hartz IV-Empfängern potenzielle Betrüger, deren „Sozialschmarotzertum“ mehr wiegt als das Schmarotzertum der Investoren die (ohne tatsächliche Wertschöpfung) einfach nur ihr Geld „arbeiten“ lassen. Man hat den Eindruck der Blick soll gewendet werden – weg vom Mitleid für all diejenigen die durch das ständig großmaschiger werdende Sozialnetz fallen und hin zur Verächtlichmachung der Schwächsten und Ärmsten in unserer Gesellschaft. Das eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik und der an Wahnsinn grenzende Kopfzahl-Sparkurs der Unternehmen eine entscheidende Ursache für den Schwund an Arbeitsplätzen ist, scheint vollkommen irrelevant.

Die Kampagne wird nicht von einer einzigen Zeitung getragen, sondern von diversen anderen genauso. Über alle erdenklichen Kanäle scheinen die Spin-Doctors aktiv an dem neuen Bild Menschenbild zu arbeiten… Und in Dutzenden von Talk-Shows wird – stellvertretend für Deutschland – diskutiert. Auch wenn bei diesen Gesprächen die üblichen (verdächtigen) Verfechter freien Marktstrebens zu Wort kommen – ohne das man sie an ihre Unwahrheiten von früher erinnert – so erhalten sie hier mal wieder ein Plateau auf dem sie ihre Gesellschaftsgiftspritzen hervor holen können. Die Welt scheint auf den Kopf gestellt und man fühlt sich an eine Vergangenheit erinnert, in der ebenso groteske Menschenbilder bedient und zur Spaltung der Gesellschaft etabliert worden waren. Fast scheint der gierige, verschlagene und betrügerische Typus des Sozialschmarotzers ein logisches Resultat unseres ach so gut funktionierenden Sozialstaates zu sein. Ein assoziales Subjekt für den der Begriff „Mensch“ fast zu unangebracht erscheint, das allenfalls als „Untermensch“verstanden werden kann… soll. Ein Wesen von hemmungslosem Egoismus, gepaart mit einer dumpfen, lediglich auf direkte Befriedigung der sündvollen Genüsse fixierten Natur. Und mit diesen Menschen die uns hintergehen, abzocken und übervorteilen sollen wir Mitleid haben? Warum? So soll es wohl ankommen…

Und der fleißige Arbeitnehmer, der natürlich immer brav seine Steuern zahlt und ohnehin kein Wässerchen trüben kann. Wollen wir diesem die Last der ganzen Welt zumuten? Wollen wir ansehen, wie er von den gefährlichen Habenichtsen ausgeplündert wird? Natürlich nicht. Und das gilt natürlich genauso für all diejenigen die ihr Geld in den Elfenbeintürmen der Finanzmärkte machen. Sioe sind die Träger der Leistungen, sie sind die geschundenen Braven, die Übermenschen also…? Wie kann man nur so platt, so schwarz-weiß argumentieren? Und warum macht sich mal wieder eine große Zahl der Mainstreammedien mit dieser (gefährlichen) Behauptung gemein, unterstützt sie oder widerspricht ihr zumindest nicht empört?

Alles Ablenkung?

Gerade jetzt wo Solidarität gefordert ist. Nicht nur in finanziellen Dingen, sondern besonders innerhalb der Gesellschaft. Gerade jetzt, wo wir gemeinsam die Schäden des gigantischen Verbrechens „Finanzkrise“ zu stämmen hätten, wo wir die Verursacher der Krise (nicht die Banker, sondern die grauen Herren im Hintergrund) als Schmarotzer ausmachen und Solidarität mit den Opfern der verfehlten Arbeitsmarktpolitik der letzten 30 (!) Jahre üben sollten, gerade jetzt sollen wir uns untereinander an den Hals gehen. Dies riecht nach einer Nebelkerze die einerseits von den wahren Ursachen ablenken, andererseits die Folgen der Krise nun auf die Allerschwächsten unter uns abwälzen soll. Doch wie schnell könnte sich der neue „Übermensch“ in der Rolle des „Untermenschen“ wiederfinden? Sei es, dass er seinen Job verliert, sein Unternehmen von der Bank allein gelassen und dann filetiert wird, sei es, dass er als Opfer der Spekulationen um sein Erspartes gebracht wird o.ä. Der publizistische Brandsatz könnte – sofern er nicht ausgelöscht wird – uns gerade in der schlimmsten Stunde der sich entwickelnden Wirtschaftskrise zur großen sozialen Gefahr auflodern.

Deswegen: Überlegt stets zwei Mal, wenn Ihr Kampagnen dieser Art seht. Glaubt nicht daran, das ganz Deutschland diskutiert, nur weil das irgendwer behauptet. Und wenn, dann versucht andere Perspektiven zuzulassen und in diese (eigene) Diskussion einzubringen. Das letzte was sich unsere Gesellschaft erlauben kann ist eine Dämonisierung der Armen. Denn das hieße, sich die Opfer vorzunehmen (in den meisten Fällen sind sie das), anstatt der Täter… Natürlich gibt es den rechtschaffenden und ehrlichen Arbeitnehmer und es wäre genauso verkehrt, einfach nur den Spieß umzudrehen. Die Sozialschmarotzer sitzen woanders und stoßen Kampagnen wie diese an. Sie hinterlassen verbrannte Erde und gießen noch Öl in das von ihnen entfachte Feuer – auch wenn sie danach mit dem Finger auf andere zeigen.

Bildquelle:
pauline, Pixelio.de