Als ich am Sonntag einschlafen wollte, ging das gar nicht so leicht. Andauernd geisterte in meinem Kopf dieses Wort herum, dass ich zuvor gefühlte 6000 Mal gehört hatte: Das Wort „Lebenswirklichkeit“. Mit diesem hatte mich unsere Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau von der Leyen, noch mal am Ende des Wochenendes erwischt. Gesehen hatte ich eigentlich „hart aber fair“, die Gute-Nacht-Talkshow im Ersten. Es ging um die nach langem Hickhack endlich bekannt gemachte Erhöhung des Hartz IV-Satzes um homöopathische 5 Euro… Lebenswirklichkeit.
Da liegt man so im Bett, will eigentlich nach so einem Schock den seligen Schlaf suchen, und krallt stattdessen die Finger in die Kissen. Die Gedanken kreisen im Kopf herum: Wer denkt sich so etwas und warum? Und denkt dieser gar nicht über die psychologische Wirkung einer solchen Entscheidung nach oder gerade? Ungeschickter, undiplomatischer, ungerechter und unfeiner geht es nicht. Für fünf (5!) Euro…, was gibt es denn dafür noch in unserer Welt? Was kann man sich heutzutage davon leisten, heute, wo die Dinge „lebenswirklich“ so teuer geworden sind, dass viele nicht mehr wissen, wo hinten und vorne ist? Was gibt einem das „wirkliche Leben“ für diesen Betrag? Nicht viel, oder?
Geld ist nicht alles
Aber dafür gibt es nun Gutscheine…! Prima. Natürlich ist es besser, wenn der Sohn im Sportclub trainieren darf, Anerkennung findet, glücklich ist – und der Staat (wir) hat es gezahlt. Natürlich ist es oberklasse, wenn die Tochter beim Klavierunterricht den Feinsinn, Takt und Gehirnfunktionen fördern lässt. Natürlich reißt sich ihre allein erziehende Mutter über den Rechnungen auf dem Tisch ein paar Haare weniger aus. Aber kann und darf man das gegeneinander ausspielen? So geschehen in eben dieser Talkshowrunde gestern. Das ist ethisch betrachtet sehr sehr doppelbödig.
Und obwohl es für und wieder in der Runde gab, war man sich einig, dass Geld allein nicht glücklich machte. Dabei wird umgekehrt ein Schuh daraus: Denn wenn kulturelle Einrichtungen von unseren Steuergeldern gebaut und unterhalten werden, dann sollten gefälligst auch Menschen die das Geld dafür nicht haben, umsonst hinein dürfen – und dann sollte man feststellen das DIES nicht reicht, und der Mensch nun mal Geld in dieser Welt braucht – und es ihm geben. Denn dieses Geld wird er gewiss nicht am Finanzmarkt verticken oder auch nur anlegen, sondern ausgeben; da er kein anderes hat. Und wem gibt er es? Genau, dem Mieter, den Energielieferanten, der Supermarktkasse, den Gebührenfürallesmöglicheeintreibern uswusf. Und wollen wir uns nicht mal deren Preise, deren Kosten und vor allen Kostenerhöhungen der letzten Jahre anschauen? Nur mal so, von wegen Lebenswirklichkeit. Eins ist klar, mit 5 Euro kann man schlichtweg nichts kaufen, was einem die Achtung vor sich selbst zurück gibt, wenn man von denen die nicht zu wenig haben so verhöhnt wird.
Man orientiert sich bei den Regelsätzen auf die Minderverdiener. So hat es das Statistische Bundesamt getan und so postulieren es jetzt die Verantwortlichen. Dabei gönnt man diesen nicht einmal einen gesetzlich abgesicherten Mindestlohn, sondern lässt sie auch gern mal für 2,50 Stunde über die Klinge springen. Mehr zu zahlen sei eine Verhöhnung eben dieser Menschen, weil sie ja so fleißig seien. Aber zuzulassen, dass ihnen so wenig Geld gezahlt wird, dass ist nicht verhöhnend? Hier eckt Politik an, hier ist sie nicht mehr zu verstehen, hier reagiert sie fahrlässig, so scheint es. Obwohl dieses Geld also auch der Binnenwirtschaft zugute kommt – und von den Steuerzahlern, nicht den Politikern selbst, bezahlt wird, wird es verknappt. Alles im Wissen um die fetteste Karte in diesem Spiel, die „Ihre Milliarden sind futsch!-Karte“.
Kein Rettungspaket für Bedürftige
Wir mussten schlucken, dass Banken gestützt und gerettet wurden. Das kamen einige 5-Euro-Scheine zusammen. Geld dass die Verursacher der Krise nicht persönlich verantworten oder gar zahlen mussten, sondern wir, unsere Kinder, Enkel, Urenkel… Geld das versprochen, optioniert, weg gegeben wurde, ohne dass wir gefragt wurden, ohne dass wir wissen durften, wer genau was und wie viel davon abbekommt und ohne dass wir dies im Nachhinein wirklich aufarbeiten. Ganz schön lebenswirklich, oder? Man baut für hunderte von Millionen (siehe Hamburger Elbphilharmonie, Stuttgart 21, Asse II …) abstruse bis gefährliche Projekte, natürlich auch ohne gefragt zu werden, sollen aber dann für alles aufkommen? Wenn aber dann die Bedürftigen im Lande nicht mehr können, und viele können nicht mehr, dann haben wir nicht mehr als für ein paar Almosen für sie? Für sollten uns was schämen, denn die Politik schafft es nicht, sondern gefällt sich noch dabei. Ein Rettungspaket für Bedürftige gibt es eben nicht.
Zeitungen die die Schwachen vor der Gefahr von Übermacht schützen sollten, liefern diese lieber aus, verhöhnen und verachten sie. Ich kann es nicht mehr sehen. Manche geben sich noch ganz ganz investigativ und machen Reportagen mit ach soooo tollen Bildernstrecken, aber tun sie was? Rufen Sie zur Einhalt, zur Vernunft und zur Menschlichkeit auf? In doppelseitigen Anzeigen, auf der Straße in den Kiosken…? Nutzen ihre verlegerische Macht und unterlassen es aber, endlich mal die Zusammenhänge offen zu legen und Solidarität einzufordern. Es geht doch bei weitem nicht mehr um politische Richtungen, links und rechts, um religiöse Unterschiede, es geht um das rein menschliche das uns hier und an dieser Stelle abhanden kommt. Nicht alle Medien machen sich zum Büttel der Zwitracht, aber viele beschränken sich eben nur auf ihren Nutzen und bleiben weit hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Ein Glück, und deshalb könnte man eher dankbar niederknien als für das neueste technische Spielzeug, ist das Internet das die Willigen und diejenigen die sich nicht unterkriegen lassen anspornt, ihnen hilft sich zu vernetzen, sich zu informieren und auch einander Halt und Kraft zu geben. Wo wären wir sonst heute?
Das Ganze zum Guten wenden
Es bleibt die Frage, so dachte ich kurz vorm Einschlafen, ob nicht auf jede Schmach etwas Gutes folgt, auf jeden Affront etwas neue Hoffnung, auf jede Zwinge eine neue Option. Diese 5 Euro sind als Betrag ein Lacher. Doch viel mehr als das Geld selbst wiegt die Geste die damit verbunden ist, das Symbol. Und dieses neue Symbol der Hartherzigkeit zeigt noch mehr Menschen, dass er aus einem Denksystem kommt, dass vom Leben, vom harten Leben, von Verzweiflung, Demütigung und Einsamkeit nichts zu wissen scheint, vom Leben auch nie mehr zurück bekommen wird. Vor allem dann, wenn sich mal der Wind dreht.
Nicht umsonst gibt es die Figur vom Kapitän Ahab in Moby Dick. Er jagt den großen weißen Wal bis in seinen eigenen Tod hinein. Er verrennt sich in die Idee und nichts kann ihn abhalten. Ahab steht für den Ruin einer Idee die zerstörerisch ist in ihrer Konsequenz. Genauso unsinnig ist es eine Gesellschaft zu entzweien, und damit zu schwächen. Wer will, dass wir die kommenden Zeiten überstehen sollte alles tun, um zu vereinen und zu stärken was nur möglich ist. Nur so, als eine mit uns und anderen solidarische Gesellschaft haben wir eine Chance. Wer das Gegenteil behauptet hat letztlich nur sich selbst im Sinn. Entweder hat das Selbstverwirklichung-gegen-alle-anderen-Prinzip keine Zukunft mehr, oder wir – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Das zu erkennen und zu handeln, hieße das Ganze zum Guten zu wenden.
Bildquelle:
Pixelio.de, Klaus-Uwe Gerhardt
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