Gestern sind wir gut bildungsbürgerlich ins Theater gegangen. Eigentlich verfolgt mich schon seit Jahren das dumpfe Gefühl, dass das Theater heutzutage mehr oder weniger seine gesellschaftliche Bedeutung verloren hat. Doch gestern war alles anders.

Wir sahen im Hamburger Schauspielhaus „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“, inszeniert von Peter Loesch. Die Inszenierung hat bereits viel Aufsehen erregt und es damit auch bis ins Medienmagazin ZAPP geschafft (siehe hier). Aufsehen erregt hat es vor allem, weil dort Hartz-IV-Empfänger die Namen der zehn reichsten Hamburger vorlesen.

Und auch wenn es mir in der Tat gut gefallen hat, dass hier die Verständigung über die sozial-gesellschaftlichen Barrieren hinweg voran getrieben wurde, so hat mich das Stück doch vor allem deshalb beschäftigt, weil es der Frage nachgeht (und das war auch das ursprüngliche Anliegen des Stücke-Autors Peter Weiß), inwieweit die Menschheit dazu lernen kann? Inwiefern Revolutionen – ob nun friedlich oder nicht – tatsächlich in eine bessere Welt führen (können)? Oder ob sie nur der Auftakt für vergleichbare Machtstrukturen und Unterdrückungen sind – eben nur unter anderen Vorzeichen?

Folgt man Peter Loesch, so sind wir wohl kaum voran gekommen. Früher waren es eben die Sans-Sculotten, heute sind es die Hartz-IV-Empfänger, die rechtlos, besitzlos und ausgegrenzt ihr Dasein fristen. Früher waren es die aristokratischen Monarchen, die mit gewalttätigen Mitteln die Menge knechteten – heute übernehmen Konsumzwang, Wellness-Programme und Pseudo-Almosen die Unterdrückung per Ablenkung von den eigentlichen Missständen, den wirklichen Träumen und Wünschen der Menschen.

Im Stück zieht der Individualist Marquis de Sade seine Schlussfolgerung daraus: Die Menschheit sei unverbesserlich, er werde deshalb zusehen, dass er seine Schäfchen ins Trockene bringt. Dessen „Gegenspieler“ Marat sieht zwar, wie „seine“ Revolution immer mehr in weitere Unterdrückung und Gewalt abrutscht – und kann dennoch die Hoffnung in die Menschheit nicht aufgeben. Ob als Lenin, Fidel Castro oder Hippie – immer wieder nimmt er von neuem Anlauf… und scheitert.

Gene Sharp befasst sich in seinem Buch „Von der Diktatur zur Demokratie“ zwar nicht mit genau diesem Thema – aber mit der Frage, welche Strategien am erfolgversprechendsten gelten, um demokratische Strukturen durchzusetzen – also quasi eine Revolution durchzuführen, die nicht zu wieder neuen, ungerechten Machtstrukturen führt, sondern zu einer wahrhaften Verteilung von Macht an das Volk.

Er geht in seinem Buch davon aus, dass allein friedlicher, politischer Widerstand dazu führen kann – und nicht Gewalt noch Verhandlungen. Denn Diktaturen (aber eigentlich natürlich auch alle anderen Staatsformen, selbst unsere so genannte Demokratie hier in Deutschland) können nur bestehen, solange die Menschen:

  • Davon überzeugt sind, dass das Regime legitim ist (bspw. durch eine bestimmte Ideologie)
  • in ausreichender Anzahl kooperieren und gehorchen (bspw. durch Gewalt und Unterdrückung)
  • die Sanktionen aufgrund von Ungehorsam mehr fürchten als das Regime
  • und das Regime Zugang zu genug materiellen Ressourcen hat (Geld, Bodenschätze, Kommunikations- und Transportmittel etc.)

Sobald diese Grundlagen entzogen sind, wanken sie. Doch diese Macht sei den wenigsten Menschen (Bevölkerungen) wirklich bewusst.  Genau das macht sie eben auch so schwach: Die Mehrheit der Menschen traut sich entweder einen erfolgreichen Widerstand nicht zu (im Falle, das ein Regime unerträglich scheint) oder hat keine Lust dazu, weil es unbequem wird (im dem Fall, dass die Missstände in einer Gesellschaft nicht einen selbst betreffen). Daran ändert anscheinend auch das Internet nichts – auch wenn es mit seiner neuen weltweiten Vernetzung für neue Formen des Aktivismus sorgt (mehr dazu in einem Vortrag, den wir bei der Jahrestagung des FIfF gehalten haben sowie in einem Video des elektrischen Reporters).

Ein weiterer Gedanke, der im Theaterstück zu Denken gab: Eine Revolution ist nicht zwangsläufig das Ergebnis einer Philosophie, eines Staatskonzeptes, eines theoretischen Überbaus, sondern eine Reaktion der Bevölkerung auf ihre Unterdrückung, die so immens auf sie wirkt, dass ihr kaum Luft zum Atmen bleibt. Auch wenn diese Bestrebungen dann politisch vereinnahmt werden. Jede Wandlung, die einer Theorie entspringt, trägt immer den Keim des Scheiterns in sich – genau genommen scheitert sie an ihrer Diskrepanz zur Realität. Und so fragt man sich heute, in Zeiten wachsenden Unmuts, welche Utopien es gälte umzusetzen.

Man fragt sich, was danach kommen sollte, wenn der Mensch sich selbst nicht ändert. Wenn man in die Geschichte schaut, zum Beispiel auf die Französische Revolution, welche der Welt Napoleon bescherte; oder die Russische Revolution, die Stalin den Weg ebnete, oder aber die Kulturrevolution in China, die Mao Zedong Macht festigen sollte… wer also die Gesellschaft wirklich ändern und in eine bessere wandeln will, kommt ohne einen Gedanken an die ureigenste, menschliche Natur nicht aus. Das Unsoziale in uns gilt es zu überwinden, denn erst dann haben Systeme der Unterdrückung keine Chance mehr.

Das mag die verzweifeln lassen, die sich mit unserer Gesellschaft etwas genauer auseinandersetzen– von Gen-Mais über Kinderarmut bis hin zu Entwicklungspolitik mit den diversen Ungerechtigkeiten beschäftigen, die es in Deutschland und der ganzen Welt gibt – und sich wünschen, man könnte etwas dagegen tun… irgendwie zu einer besseren Welt gelangen. Doch es bleibt wohl so, wie uns der Theologe und Psychologe Eugen Drewermann in einem Gespräch sagte: Man kann sich nicht für eine bessere Welt einsetzen, weil dafür eine Belohnung (bspw. in Form von Erfolg) aussteht. Man kann sich nur für sie engagieren, weil es einem ein inneres Bedürfnis ist.