Was gibt meinem Leben einen Sinn? Diese Frage stellt sich die Lebenssinn-Forscherin Dr. Tatjana Schnell wissenschaftlich und hat erstaunliche Erkenntnisse.

Hat das Leben denn einen Sinn?

Diese Frage untersuche ich nicht empirisch, weil das gar nicht geht. Ich erforsche, ob die Menschen glauben, dass ihr Leben einen Sinn hat – und wo sie diesen finden.

Und welchen Sinn finden die Menschen in ihrem Leben?

Die gängigsten Lebensbedeutungen waren in unserer letzten deutschen repräsentativen Stichprobe (2006) Moral, Fürsorge, Harmonie und Entwicklung – also stark bezogen auf ein geregeltes Miteinander, weniger auf Selbstverwirklichung oder Selbsttranszendenz. Die meisten Deutschen erfahren ihren Lebenssinn also durch persönliche Beziehungen und das Festhalten an klaren Werten.

Und was spendet am meisten Lebenssinn?

Hier steht die Generativität ganz oben – also dass man etwas für die Gesellschaft im allgemeinen tut. Etwas, das einem nicht unmittelbar selbst etwas bringt, sondern der Gesellschaft oder den kommenden Generationen. Wer das tut, erlebt sein Leben mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als sinnvoll – egal, ob jung oder alt, gesund oder krank, deutsch oder nicht. Dieses Ergebnis haben wir inzwischen in vielen Ländern gefunden.

Was zeichnet ein sinnerfülltes Leben aus?

Also zunächst einmal ist Sinn erleben nicht das Gleiche wie Glück erleben. Wenn ich sinnerfüllt lebe, dann tue ich das, was mir sinnvoll erscheint, was zu mir und meinen Werten passt. Das kann auch bedeuten, dass ich Dinge tue, die anstrengend oder gefährlich sind. Unter Glück verstehen wir oft das, was angenehm und möglichst frei von Leid und Schmerzen ist.

Ein sinnvolles Leben ist daher nicht direkt immer angenehm. Aber man nimmt Anstrengungen und Herausforderungen eher an. Sinnerfüllte Menschen werden daher nicht seltener krank, aber sie gehen anders mit ihren Krankheiten um. Langfristig – das zeigen mehrere Studien – führt ein sinnerfülltes Leben somit zu mehr Zufriedenheit und Wohlgefühl, als ein glückliches Leben im oben geschilderten Sinn.

Soll man also lieber den Sinn anstatt das Glück suchen?

Keines von beiden, denn beides ist schwierig oder gar unmöglich. Wer das versucht, dreht sich ständig um sich selbst – und dann wird das nichts. Dann wählt man Dinge, die Glück versprechen: Reisen, Kosmetik, Sport und so etwas. Doch wenn es nicht meinem Lebenskonzept entspricht, ist das selten sinnstiftend.

Eine Alternative ist Aristoteles‘ Konzept vom gelingenden Leben (Eudämonie): Hier geht es erstens darum, dass ich weiß, wer ich bin, was ich kann und was mich interessiert – also eine gewisse Selbstkenntnis habe. Und zweitens, dass ich mir Ziele setze, die ich um ihrer selbst willen erreichen will. Ich strebe diese Ziele nicht an, um dadurch etwas anderes zu bekommen, wie Attraktivität oder Ruhm oder Status. Sondern ich tue, was ich per se richtig oder wichtig finde. Dabei entsteht das Sinn- oder Glückserleben quasi als Nebenprodukt. Ich strebe also nicht nach Glück oder Sinn – sondern danach, für mich richtig zu leben.

Welche Bedeutung haben dabei Sinnkrisen?

Sinnkrisen sind schrecklich und schmerzhaft und ganz wichtig. Sie können wahrgenommen werden als eine Art intellektueller Suizid oder Tod, denn sie bedeuten, dass das, was ich bisher über die Welt angenommen habe, nicht mehr trägt. Das tut sich niemand freiwillig an und so kommen Menschen meist zur Sinnkrise, wenn von außen etwas dazu führt – ein Unfall, eine Krankheit oder eine Trennung.

Doch Sinnkrisen bergen ein hohes Potential, danach ein Leben zu führen, das viel echter ist. Echter in dem Sinne, wie es existenzialistische Philosophen wie Heidegger beschrieben haben. Er sprach von dem Leben als Alltäglichkeit: Man lebt so wie man lebt. Man tut das, was man tut. Man verbleibt in der Routine und in der Oberflächlichkeit. Man setzt sich nicht damit auseinander, was das Leben eigentlich bedeutet.

Eine Sinnkrise ist eine Begegnung mit unserer existenziellsten Angst: Dass das Leben endlich ist. Die Existenzialisten nennen es auch einen »Roar of Awakening« – also ein Weckruf. In der Psychologie kennen wir das unter dem Begriff »Posttraumatisches Wachstum«: Menschen, die ganz schreckliche Krisen erlebt haben, sagen hinterher, dass dies das Beste war, was ihnen passieren konnte – eigentlich absurd.

Aber diese Menschen gewinnen durch die Krise eine neue Perspektive auf ihr Leben. Sie öffnen sich häufig für eine Transzendenz: Entweder die vertikale Selbstüberschreitung im Sinne von Spiritualität oder die horizontale, indem sie etwas für andere, die Menschheit, die Natur tun. Sie wertschätzen Beziehungen stärker und erleben sich selbst ganz anders: Als verletzlicher, aber auch als stark genug, das durchzustehen.

Wie kommt man zu diesem Posttraumatischen Wachstum, wie nutzt man Sinnkrisen positiv?

Wir wissen leider noch nicht allzu viel darüber, was die Gründe für das Posttraumatische Wachstum sind. Was wir aber wissen, ist die Wichtigkeit der aktiven Bewältigung: dass man sich damit auseinandersetzt, was geschehen ist, und es nicht verleugnet. Dabei sollten weder Angst noch Verzweiflung die Oberhand behalten. Es geht darum, einen Sinn im Weiterleben zu finden – sei es durch die Verantwortung, die man für andere hat, oder um all das Schöne wahrzunehmen, dass man bisher ignoriert hat.

Welche Rolle spielt dabei der Mut und die Ermutigung?

Für diesen existenzialistischen Ansatz braucht man eine Menge Mut! Denn existenzialistisches Leben bedeutet: Trau Dich, Dir anzuschauen, was das Leben wirklich ist – und das bedeutet nun mal: Wir werden sterben!

Und es erfordert auch den Mut zu erkennen, dass wir in den meisten Fällen frei sind zu entscheiden, was wir tun – also dass wir die Verantwortung dafür tragen. Ich bin verantwortlich, was ich tue – auch wenn es das ist, was alle anderen tun. Denn ich könnte ja auch anders leben: Kein Auto haben oder Vegetarier sein… Verantwortungsübernahme braucht Mut, ist aber auch extrem sinnstiftend.

Ist Sinn eine Frage der Gesellschaft, in der wir leben?

Leider gibt es noch keine systematischen Vergleiche, was die Ausrichtung der Lebensbedeutungen in unterschiedlichen Ländern angeht – da sind wir gerade dabei, ein weltweites Projekt durchzuführen. Doch wir haben schon recht breit angelegte Untersuchungen, was die Existenziell Indifferenten angeht. Das sind Menschen, die keinen Lebenssinn empfinden, aber auch kein Problem damit haben. Sie leben dahin, engagieren sich für nichts – noch nicht einmal für ihre eigene Verwirklichung oder Beziehungen – und lehnen Selbsterkenntnis, Generativität, Religiosität und Spiritualität besonders stark ab.

Die Quote dieser Existenziell Indifferenten ist vor allem in westlichen Ländern sehr hoch. In Bulgarien – dem ärmsten Land Europas – ist sie dagegen sehr niedrig ausgeprägt. Das wirft Fragen auf: Sind bei uns so viele Menschen existenziell indifferent, weil wir – trotz Finanzkrise – im Wohlstand leben, weil scheinbar alles irgendwie läuft, auch wenn wir keine existentiellen Entscheidungen treffen? Entsteht mehr Lebenssinn durch den Druck zusammenzuhalten, um den Lebensunterhalt zu sichern?

Wie sieht das in den Generationen aus – etwa der Generation Y, auf die ja viele ihre Hoffnung stützen?

Bei der Generation Y sehen wir ein stärkeres Bewusstsein über und Eintreten für die Dinge, die ihnen wichtig sind, bei gleichzeitiger Abkehr von bis dato selten hinterfragten Werten wie Karriere und Status. Dennoch: Die jetzigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bestehen ja nicht komplett aus der Generation Y. Wir haben hier auch zirka vierzig Prozent Existenziell Indifferente. Es zeigt sich eine deutliche Trennung zwischen denen, die klar wissen, was sie wollen und was sie nicht wollen – und denen, die überhaupt keine Vorstellungen haben, wohin sie wollen.

Die Existentiell Indifferenten haben keine Ahnung, welche Ausbildung sie machen oder welchen Beruf sie einmal haben wollen. Sie haben auch keine Motivation. Dabei lehnen sie es ab, sich näher mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich selbst kennenzulernen. Zudem glauben sie nicht, dass sie in ihrem Leben etwas selbst bestimmen können. Vielmehr schreiben sie das, was geschieht, dem Zufall zu – oder mächtigeren anderen.

Was ist mit denen, die genau wissen, was sie tun wollen – es aber nicht können, weil sie damit nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten können?

Das geht immer mehr Menschen so. Immer mehr fragen sich ernsthaft, warum sie so viele Zugeständnisse hinsichtlich Arbeitsbedingungen und Karriereerfordernissen machen und Kompromisse eingehen sollten und sehen darin keinen Sinn.

Dazu kommt aber auch, dass man Sinn nicht alleine schaffen kann. Als Menschen agieren wir uns immer in übergeordneten Kontexten: Sinn entsteht, wenn hier eine Passung vorhanden ist. Das Individuum kann auf Dauer kein sinnvolles Leben leben, wenn seine Umgebung so ausgerichtet ist, dass es seinen Überzeugungen widerspricht – es gibt also kein richtiges Leben im falschen, wie Adorno schon feststellte. Die Kriterien der Sinnerfüllung sind:

  • Ich muss mein Leben als kohärent erleben – also das Gefühl haben, dass die einzelnen Teile meines Lebens zusammenpassen und ich keine Kompromisse eingehen muss.
  • Ich muss Bedeutungshaftigkeit erleben – also dass das, was ich tue, Konsequenzen hat. Viele Menschen – etwa Künstler oder politisch Engagierte – haben das Gefühl, dass sie sich abrackern, aber keine Wirkung oder Anerkennung finden. Das schränkt das Sinnerleben ein.
  • Ich brauche Orientierung – ich muss wissen, wohin ich will.
  • Ich muss Zugehörigkeit erfahren – Sinn erlebt man, wenn man Teil von irgendetwas ist, das größer als man selbst ist – Familie, Freunde, Gemeinschaften, Gesellschaft, Berufsgruppen…. Erlebt man sich als isoliert, so leidet die Sinnhaftigkeit.

Das heißt, selbst wenn ich meine Lebensbedeutungen klar kenne, kann mein Sinnerleben leiden, wenn die anderen Kriterien nicht gegeben sind. Die Lösung kann dabei nur gesellschaftliche Veränderung sein, wofür man Ansätze beispielsweise in Graswurzelbewegungen sehen kann. Etwa Gemeinschaftsgärten, Tauschmärkte oder Co-Working-Spaces: Menschen mit ähnlicher Orientierung tun sich zusammen und werden gemeinsam aktiv.

Sinnerleben verlangt also in vielen Fällen, und vor allem in urbanen Umgebungen, dass man selbst aktiv wird. Und auch, wenn man sich Sinn-Nischen schafft, kann es schwierig bleiben – denn die Kohärenz – also Passung – hängt immer noch davon ab, in welchen Kontexten ich handle.

Die meisten müssen nach wie vor ihren Lebensunterhalt in Arbeitswelten verdienen, die primär auf Wachstum und Profit ausgerichtet sind, was in vielen Fällen im Widerspruch zum Sinnerleben steht Das könnte durch das bedingungslose Grundeinkommen geändert werden.

Zudem müssen wir mit dem Problem der erlebten Bedeutungslosigkeit umgehen. Wo machen Menschen heute die Erfahrung, dass ihr Handeln Konsequenzen hat? In der Politik zum Beispiel immer weniger; der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch spricht bereits davon, dass wir in einer Postdemokratie leben. Und Bewegungen wie die PEGIDA machen das Gefühl des fehlenden persönlichen Einflusses auf andere Art deutlich.

Ein als sinnvoll erfahrenes Leben verlangt, dass das eigene Handeln als effektiv wahrgenommen wird. Anstatt immer größerer Entfernung der Entscheidungsprozesse von den Bürgern – etwa durch Zentralisierung und Globalisierung – wäre es wichtig, die und den Einzelnen in Prozesse einzubinden und Gestaltungsspielräume offen zu halten.


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