Andere Orte ist ein schmaler Band mit Essays über den Blick armer Menschen auf unsere Welt.

Essay über die Armut

Es gibt immer reichere Reiche – und immer mehr arme Arme. Das wissen wir. In Hamburg beträgt das Durchschnittsjahreseinkommen einer vierköpfigen Familie im reichsten Stadtteil zum Beispiel 150.000 Euro – im ärmsten 15.000 Euro. Solche Zahlen erschrecken. Aber was bedeuten sie konkret? In so genannten Werkstattgesprächen hat sich die Diakonie Hamburg mit Hartz-IV-Empfängern ausgetauscht – mit künstlerischen Ergebnissen. Einen Essay dürfen wir hier veröffentlichen. Sehr berührend!

gesellschaft blickwinkel

Ein Blumenfenster sagt viel über unsere Gesellschaft – wenn man genau und aus dem „richtigen“ Blickwinkel hinschaut

BLUMENFENSTER. Das große Fenster lässt die Sonne in meinen Wohnraum. Ich liebe diese Helligkeit, und deshalb gibt es auch nur eine kleine Gardine am oberen Rand des Fensters. Sie verdeckt die hässliche Fensterlaibung. Die breite Fensterbank ist angefüllt mit Pflanzen und mit Keramik der 1950er Jahre. Ich mag das Kunstgewerbe dieser Zeit. Das Plastik hatte seinen Siegeszug noch nicht begonnen, die Menschen achteten noch auf Qualität und Dauerhaftigkeit.

Seelenvolles Design

Im Design lebte Erinnerung an die Klassische Moderne nach der Hitler-Zeit wieder auf. Ich verwende auch im Haushalt viele Sachen aus den 1950er Jahren. Sie sind seelenvoll, weil sie in vielen kleinen Manufakturen von anspruchsvoll ausgebildeten Designern entworfen worden sind und sie in den zum Teil eigenwilligen Formen somit Gedanken erhalten haben, die vor Jahrzehnten gedacht worden sind. Auf Flohmärkten kann ich mit etwas Glück diese Sachen wesentlich günstiger erstehen, als Stücke neuer und völlig seelenloser Produktion.

Jetzt komme ich zu den Blumen.

Es sind durchweg sehr anspruchsvolle Arten, die mich, weil ich auf ihre Eigenarten und Bedürfnisse eingehe, mit wunderschönen Blüten erfreuen. Ich fand die Pflanzen völlig verwahrlost in Ramschkisten für wenige Zehner zum Verschleudern bestimmt, und in Abfallcontainern. Jetzt, beim Schreiben, wird mir deutlich, dass mein Blumenfenster eigentlich ein Reservat ist, ein nach außen abgeschlossener Raum ist, in dem ich vergessene Werte konserviere.

Vergessene Werte

Das hemmt mich beim Schreiben, weil ich keineswegs ein Lamento fabrizieren möchte, andererseits gibt es einfach keinen anderen Text für mein Fenster. Die Blumen werden in Spezialgärtnereien, zum Teil in Übersee, bis zur ersten Blüte gezogen und in großen Partien verkauft. Sie dienen als Geschenk oder als Dekor. Nach der Blüte ist ihr Schicksal besiegelt. Der normale Konsument macht sich nicht die Mühe, solch schwierige Pflanzen zu pflegen.

Der kauft zur nächsten Gelegenheit einfach eine andere. Manchmal verblüht die Blume bereits vor dem Verkauf. Dann ist die Pflanze Abfall. Man gibt ihr keine Zeit, zur Bildung einer neuen Blüte. So erging es etwa meiner Venusschuh-Orchidee aus dem Abfall eines Baumarktes. Bei mir ist sie in sechs Jahren zu einer üppigen Pflanze herangewachsen, die mich nicht nur mit ihrer Entwicklung, sondern jedes Jahr wieder mit mehreren Blüten von abenteuerlichen und geradezu unglaublich schönen Formen erfreut.

Unser Leben zu schätzen wissen…

Ich sehe in diesen Pflanzen auch eine Parallele zu uns Menschen. An diesen ganz eigenen Wesenheiten, immerhin lebende Organismen, interessiert nur der eine Aspekt, der sich kommerziell ausnutzen lässt.

Dumme Menschen wissen die Kostbarkeiten, die sie besitzen, nicht zu schätzen. Mir wurde tatsächlich erst beim Schreiben dieser Zeilen deutlich, wie sehr sich an meinem Blumenfenster ablesen lässt, von welchen Schätzen sich diese Gesellschaft leichtfertig getrennt hat: Qualitätsbewusstsein, Solidarität, Individualität und der Wert der Persönlichkeit, Gemeinschaftssinn und vor allem die Zeit, die jedwedes zur Entwicklung braucht.

Vielen Dank für die Freigabe zur Veröffentlichung dieses Textes an den Autor Rolf Sonnenberg!

Auf der Website www.alleanbord.de gibt es übrigens mit den Teilnehmern der Werkstattgespräche auch kurze Video-Interviews, die allesamt sehr nahe gehen. Mir zumindest…