Der Weltsicherheitsrat erklärt den Klimawandel zum Weltsicherheitsrisiko. Währungen wanken im Nachbeben der Weltfinanzkrise. Die Folgen von Fukushima, Deep Water Horizon und Co. sind längst noch nicht ausgestanden (und bezahlt). Trotz Hungersnot sollen Biosprit Alternativen und Lebensmittelspekulationen geduldet bleiben. Nein, Schuld an der Systemkrise des neoliberalen Paradigmas sind nicht nur ein paar gierige Manager und Banker. Es hat unsere Demokratien schon längst aus den Angeln gehoben. Die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich hat der von Stéphane Hessel beschworenen Empörung schon längst den Widerstand folgen lassen. Und das überall in Europa, nicht nur im Nahen Osten.

Ein Buch aus dem VSA Verlag gibt einen Überblick über die verschiedenen sozialen Proteste in Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien (Griechenland und Irland fehlen (mir) leider). Für ein Buch – also eigentlich in den heutigen Zeiten langsames Medium – will der Titel ungewöhnlich aktuell zu sein. Das gelingt ihm auch fast. Allein mit dem Interview mit Torben Becker (Energiereferent und Leiter des Klimaschutzteams der Bundesgeschäftstelle des BUND) zum Thema „Atom-Moratorium“ legten sich die Herausgeber ein bisschen selbst eine Falle aus: zu schnell veralten derlei Inhalte für ein Buch.

Nichtsdestotrotz – oder auch gerade deswegen: Das Buch ist unbedingt empfehlenswert für alle, die zu Zweifeln beginnen, ob in einer Demokratie leben lediglich heißt, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen. Ja, die sich fragen, ob wir überhaupt noch in einer Demokratie leben – und nicht in einem riesengroßen Lobbyverband, und in einer Wahlveranstaltungs-Reality-Soap. Denn, so fragen sich immer mehr Menschen in ganz Europa: Warum sollten Sozialleistungen noch weiter gekürzt werden, wenn für die Schulden doch vor allem die Banken verantwortlich sind – die trotz massiven Fehlverhaltens keinerlei Sanktionen zu erwarten haben? Und wen,, dann nur freiwillig…?

Wieso können wir uns in einem demokratischen Staat nicht so ohne weiteres von der Atomkraft verabschieden, wenn die Mehrheit des Volkes dies wünscht? Nur damit ein paar Konzerne ihre Milliardengewinne einstreichen können? Wieso sollten wir immer höhere Krankenkassenbeiträge zahlen? Nur weil die Pharmalobby der Politik die Preise für die Arzneimittel diktiert und privat betriebene Krankenhäuser Renditen im zweistelligen Bereich wünschen? Wieso sollten wir Studiengebühren hinnehmen oder einen Boom des politisch erzeugten Lohndumpings – oder den Bau eines viel zu teuren Kopfbahnhofes, wenn es doch Alternativen gibt, die viel mehr im Interesse des Allgemeinwohls liegen?

Ja, wieso eigentlich? Das fragt sich nicht nur Stéphane Hessel, der Franzose mit deutschen Wurzeln, der mit seinem schmalen Büchlein „Empört euch!“ einen unerwarteten Bestseller landete. Dies fragen sich auch René Rudolf, Ringo Bischoff und Eric Leiderer. Sie haben deshalb ein Buch herausgegeben: „Protest, Bewegung, Umbruch“. Darin lassen sie verschiedenste Aktivisten zu Wort kommen – alle mit dem Ziel: zu zeigen, dass es schon sehr viele Menschen in ganz Europa gibt, die den Schritt von der Resignation zurEmpörung zum Protest vollzogen haben.

Sie schildern, welche Bewegungen es in Italien, Österreich, Frankreich, Großbritannien und Deutschland gab und gibt. Sie vermitteln Erfahrungen und Erkenntnisse. Sie zeigen, was warum gut gelaufen ist – und was aus welchen Gründen scheiterte. Sie fordern damit aber auch auf, sich kritisch mit unserer sogenannten Demokratie auseinander zu setzen: Funktioniert die Politik als neutrale Interessenvermittlerin noch? Herrscht denn tatsächlich noch das Volk? Berichten die Medien überhaupt noch so, dass eine relativ objektive Meinungsbildung überhaupt noch möglich ist? Dies alles sind rhetorische Fragen…

Doch natürlich setzen sich die Autoren auch mit der Mentalität der Deutschen auseinander. Nachdem nun jeder weiß, dass die Deutschen eher selten demonstrieren, weil sie dann unerlaubt einen Rasen betreten müssten, ist das wohl obligatorisch. So hinterfragen die Autoren zum Beispiel die Unterschiede zwischen der gewerkschaftlichen Organisation in Deutschland und Frankreich – und erklären, wieso es dadurch in Frankreich häufiger zu Streiks kommt.

Sie konstatieren in Deutschland allerdings nicht nur eine erfreuliche Tendenz zum Protestieren, Aufstehen und Mund-aufmachen (kurz gesagt: zu einem demokratischen Verhalten). Sie wollen auch eine gestiegene Akzeptanz für zivilen Ungehorsam erkennen. Das – so meinen die Autoren – sei relativ neu. Bislang seien in Deutschland (im Gegensatz zum Beispiel zu Italien oder Frankreich) derlei Aktionen gerne vom Mainstream mit Verständnislosigkeit und Abwehr aufgenommen worden: Eine gute Möglichkeit für diejenigen die vom bestehenden System profitieren, das Volk zu teilen, wo es eigentlich einer Meinung ist – nur vielleicht mit unterschiedlichen Mitteln „kämpfen“ würde.

Dem Buch fehlt nach meinem Geschmack noch ein bisschen die praktische Komponente. Ein bisschen mehr Erfahrungs- und Wissensaustausch in Sachen Campaigning könnte Deutschland auf keinen Fall schaden. Aber dafür ist es vielleicht auch gar nicht gedacht. Was es ganz hervorragend macht – und daher möchte ich es auch allen ans Herz legen: Es erweitert, ergänzt und konkretisiert Hessels kleines Buch. Damit ist es der ideale Motivator gleich heute die Demokratie in die eigene Hand zu nehmen und sich selbst (oder anderen) eine Stimme zu verleihen.

Die bibliografischen Angaben:
„Protest, Bewegung, Umbruch. Von der Stellvertreter- zur Beteiligungsdemokratie“. René Rudolf, Ringo Bischoff, Eric Leiderer (Hrsg.), VSA Verlag ISBN 978-3-89965-488-6, 12,80 Euro. www.vsa-verlag.de