Was bedeutet eigentlich Fortschritt? Wie viel ist genug? Und wie sieht ein gutes Leben aus? Krisenphänomene wie schwindende Ressourcen, Klima-Erwärmung oder demografischer Wandel zwingen uns, neue sinnstiftende und zukunftsfähige Ideen für unsere Gesellschaft zu finden.

Warum wir umdenken müssen

»Wenn alle Menschen so leben wollten wie wir, bräuchten wir drei Planeten Erde«, so Dr. Hermann E. Ott, MdB und Obmann der Enquête-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«. Ergebnis der Kommission waren unter anderem zehn neue Fortschritts-Indikatoren, die neben dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) den Wohlstand eines Volkes widerspiegeln sollten.

Denn wenn der vermeintliche Sachzwang zum Wirtschaftswachstum unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört; wenn der demografische Wandel zugleich ein Wachstum immer schwieriger macht; und wenn deshalb Wachstum mit einem immer perfideren Konsum erzwungen wird (etwa in dem die Waren immer schneller kaputt gehen (geplante Obsoleszenz) und damit die Umwelt unnötig belasten) – und zugleich die Menschen unter dem Druck der Werbung und des von Statussymbolen geprägten Zusammenlebens immer unglücklicher werden… dann ist es Zeit, dem Begriff »Fortschritt« neu zu definieren.

Mehr ist dann nicht immer besser. Mehr kann dann auch zur Last werden: Mehr Arbeit, mehr Konsum, mehr Profit, mehr Technik (die nur der Profitmaximierung und dem Machterhalt dient – wie etwa die Patentierung von Pflanzen und Tieren oder die ausufernde Überwachungstechnologie). Mehr bedeutet dann eben nicht gleich auch mehr Wohlstand im Sinne von mehr Lebensqualität.

Das Zukunftscamp in Hamburg

Immer mehr Menschen spüren, dass uns der »Fortschritt« schon lange entglitten ist. Entwickelt wird nicht vor allem das, was uns ein besseres Leben ermöglicht. Entwickelt wird vor allem das, was Profite bringt, Wirtschaftswachstum erzeugt, Machtstrukturen sichert. Doch immer mehr Menschen macht dies unglücklich. Es raubt unserem Leben den Sinn.

Es führt uns aber auch immer deutlicher zu der Frage: Was gibt unserem Leben denn Sinn? Wie müssen wir unsere Gesellschaft gestalten, damit wir den Krisenphänomenen auf der einen Seite möglich konstruktiv begegnen können? Und auf der anderen Seite aber auch einen Gegenentwurf zum in die Sackgasse geratenen Wirtschafts-, Demokratie- und Gesellschaftskonstrukt entwickeln?

Genug kontroverser Stoff, um sich ihm vier Tage im Hamburger Theater Kampnagel während des Zukunftscamps (www.vernetzterleben.de) der Zeit Stiftung zu widmen. Den Höhepunkt bildete der Samstag: An diesem Tag fanden zahlreiche Podiumsdiskussionen statt zu Fragen wie: Wie viel müssen wird arbeiten? Ist ein Sozialstaat ohne Wirtschaftswachstum möglich? Wie können wir unsere (Konsum)Gesellschaft umweltverträglich machen? Wie sähe eine Stadt aus, die sich zu hundert Prozent selbst versorgt? Wie müssen wir unsere Demokratie weiter entwickeln, um gemeinsam Lösungen zu finden? Und welche Herausforderungen bringt die Ära der digitalen Bürgerrechte mit sich?

Wie wollen wir arbeiten? Robert Skidelsky

Den Auftakt bildete Robert Skidelsky, Wirtschaftshistoriker und Autor des Buches »Wie viel ist genug?«. Er blickte in seiner Keynote-Rede sowohl zurück, als auch nach vorne. Zurück zu den Prognosen des berühmten Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes, der vorher sah, dass die Menschen aufgrund des technologischen Fortschritts künftig nur noch maximal 20 Stunden die Woche arbeiten müssten. Eine Prognose, die ganz offensichtlich nicht eingetroffen ist.

Doch warum? Warum arbeiten wir eigentlich viel mehr, als wir müssten, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen? Links orientierte Geister würden sagen: Weil der Kapitalismus die Lohnabhängigen so arm hält, dass sie so viel arbeiten müssen. Wer den wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland sieht, möchte dem zustimmen. Wer besser verdient würde vielleicht antworten: Weil mein Arbeitgeber dies erwartet und ich meinen Job verliere, wenn ich nicht so viele Stunden leiste wie meine Kollegen. Auch dem können sicherlich viele zustimmen.

Small is beautiful, Ernst Friedrich Schumacher

Ein Grund sei aber auch der soziale Status der Arbeit, antwortet Skidalsky in seiner Rede: Wir leben in einer Gesellschaft, die Leistung als das Ideal hochhält – und den Müßiggang als Schmarotzertum verdammt. Skidalsky fordert uns daher nicht nur auf, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein weniger an Erwerbsarbeit überhaupt ermöglichen (Stichwort Mindestlohn). Er fordert uns auch dazu auf, bei uns selbst anzufangen: Wie viel brauchen wir wirklich? Was sind unsere existenziellen Bedürfnisse – und was wünschen wir uns »nur« (etwa aufgrund der allgegenwärtigen Werbung)?

Er fordert uns auf, unsere Einstellung zur freien Zeit zu verändern, die Prioritäten in unserem Leben neu zu setzen und bezieht sich dabei unter anderem auf die buddhistisch geprägte Sicht auf Arbeit des Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher. Dabei gibt Erwerbsarbeit unserem Leben meistens nicht den Sinn (siehe oben). Doch das, was uns bewegt und umtreibt eignet sich oft nicht zum Geld verdienen. Sind diese Tätigkeiten deshalb sinnlos? In einer Gesellschaft, in der nur zählt, was monetären Wert schafft: Ja. In einer Welt, in der Zufriedenheit, Glück sowie ein aktives Gemeinschafts- und Kulturleben an oberster Stelle steht: Nein.

Der Wandel ist machbar

Skidalsky schaut aber auch nach vorne in die Zukunft. Und er tut dies optimistisch. Der Wandel der Lebensplanung weg von der Fokussierung auf Erwerbsarbeit, hin zu einer Zwei- oder Dreiteilung des Lebens – in Erwerbsarbeit, sinnvoll verbrachter Freizeit und gemeinnütziger Arbeit – ist seiner Meinung auch vor dem Hintergrund dringend notwendig, dass die Arbeit bedingt durch den technischen Fortschritt, eben einfach abnimmt. Aufgabe der Politik sollte es nicht sein, für eine Vollzeit-Vollbeschäftigung aller zu sorgen (die ohnehin zunehmend utopisch ist), sondern für einen gerechten und ausreichenden Lebensunterhalt.

Bildung spiele bei dem Bewusstseinswandel des Einzelnen eine zentrale Rolle, meint Skidalsky. Denn es seien vor allem diejenigen, die schlecht ausgebildet im Niedriglohnsektor arbeiteten, denen dieser geistige Wandel am schwersten fallen dürfte. »Wir müssen Kindern in der Schule deshalb beibringen, wie sie selbständig etwas Sinnvolles mit ihrer Freizeit anfangen können«, forderte Skidalsky. Ein fundamentaler Wandel unseres Schulssystems, das derzeit vor allem darauf ausgerichtet ist, für den Arbeitsmarkt passende Mitarbeiter zu »produzieren«.

Fazit: Genieße den Wandel

Der von Skidalsky eingeforderte Sinneswandel ist in weiten Teilen der Mittelschicht bereits zu spüren. Nicht umsonst hat das bereits erwähnte Buch, das er gemeinsam mit seinem Sohn schrieb, großen Erfolg gehabt. Nicht umsonst wird er zu Veranstaltungen wie dem der Zeit Stiftung eingeladen. Nicht umsonst lauschen Hunderte von Menschen seinen Worten. Und nicht umsonst haben Themen wie Sabbaticals, Down-Shifting, Genügsamkeit und Selbstversorgung Hochkonjunktur.

Doch dieser Wandel findet bislang »nur« in einer privilegierten Mittelschicht statt. Auch dürfte es noch geraume Zeit dauern, bis die entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffen sind. Skidalsky ist sich – danach vom Publikum gefragt – jedoch sicher, dass wir diese neue Lebensweise in einem (schwierigen) demokratischen Prozess erreichen können.

Den Saal verlasse ich jedenfalls mit dem guten Gefühl, dass sich große Veränderungen zu einem besseren Leben (oder zumindest, was ich darunter verstehe) in immer breiteren Schichten unserer Gesellschaft abzuzeichnen beginnen. Die Veränderungen gehen natürlich nicht von denjenigen aus, die sich die Stabilität der aktuellen Systeme wünschen. Aber sie sind überall zu spüren.